Wo fängt man aktuell an, über die Bedeutung der Freiheitsrechte zu schreiben? Derzeit am besten erstmal drinnen. Jetzt, da die Heizungen sich gerade warmlaufen, werden auch die Diskussionen wieder befeuert – vom sich in Innenräumen hervorragend vermehrenden Corona-Virus. Und von den unterschiedlichen Ansichten zum Umgang mit der Pandemie. Also gehen sie wieder los, die Diskussionen um persönliche Freiheit und körperliche Unversehrtheit, um Pflichten und Rechte des Einzelnen.
„Die Freiheit besteht darin, dass man alles das tun kann, was einem anderen nicht schadet“, schrieb der deutsche Dichter und Journalist Matthias Claudius im 18. Jahrhundert. Dieses Zitat fasst für mich sogar noch griffiger eine Vorstellung von Freiheit zusammen, die ich als demokratisch, solidarisch und unseren Grundwerten entsprechend empfinde, als das berühmte Zitat von Immanuel Kant. Ihm zufolge endet die Freiheit des Einzelnen dort, wo die des anderen beginnt. Beziehen wir das Zitat von Claudius auf Corona-Impfungen, dann könnte man natürlich argumentieren, dass schnell alles gesagt ist. Aber treten wir dennoch einen Schritt zurück, betrachten wie das bigger picture, suchen einen anderen Blickwinkel. Also Demokratie wagen. Und fragen: Worüber reden wir denn eigentlich?
Acht Grundrechte und eine Denkfigur
Wir haben Grundrechte. Diese sind im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland festgeschrieben. Acht an der Zahl: Persönliche Freiheit, Religionsfreiheit, Meinungsfreiheit, Versammlungsfreiheit, Vereinigungsfreiheit, Freizügigkeit, Berufsfreiheit, Petitionsfreiheit. Wenn wir über Corona und die Impfungen und die großen Zusammenhänge reden, dann streiten wir vor allem um die persönliche Freiheit, Artikel 2 GG. Dieses Recht hat zwei Bestandteile: Das Recht auf persönliche Entfaltung, Absatz 1, und das Recht auf körperliche Unversehrtheit, Absatz 2.
Unsere Freiheit wird so lange engere Grenzen finden, als wir es bisher kannten, solange wir Menschen schützen müssen.
Silke Zimmermann
Programmleiterin und Mitglied der Geschäftsführung der Nemetschek Stiftung
Wagen wir nun eine Denkfigur. Denn in unserem Freiheitsrecht ist auch eine Schutzfunktion verbrieft: Der Staat ist dazu verpflichtet, unsere körperliche Unversehrtheit – also unsere Gesundheit – zu schützen. Ein Aspekt, der mir in den aktuellen Diskussionen oft zu kurz kommt. Somit geht es also politisch auch darum, zwischen Freiheit und Verantwortung abzuwägen. Der alleinige Verweis, dass Menschen, die sich nicht impfen lassen möchten, diese Entscheidung mit dem Recht auf persönliche Freiheit begründen, trägt also nicht. Im Zuge der Corona-Pandemie versucht der Staat dieser Schutz-Verpflichtung ja gerade dadurch nachzukommen, dass er für die Menschen in diesem Land einen Impfstoff mit Schutzwirkung gegen das weltweit grassierende Virus zur Verfügung stellt. Ja, diese Impfung schützt niemanden zu 100 Prozent, aber sie verhindert viele Erkrankungen und mildert die Verläufe, so dass weniger Menschen an Corona sterben. Auch wenn ich keine Immunologin oder Epidemiologin bin, habe ich so viel über die Wirksamkeit von Impfungen verstanden, dass ich weiß, dass die Impfung ihre protektive Wirkung eigentlich nur voll entfalten kann, wenn möglichst viele von denen, die körperlich und gesundheitlich dazu in der Lage sind, mitmachen. Leider sind es zu wenige.
Aus meiner Perspektive wird also meinem Recht auf körperliche Unversehrtheit derzeit nicht ausreichend nachgekommen. Das Infektionsrisiko ist auch für geimpfte Menschen hoch und im Fall einer plötzlichen schweren Erkrankung muss ich im schlimmsten Fall befürchten, dass nicht ausreichend medizinische Kapazitäten für eine Behandlung zur Verfügung stehen. Gleichzeitig muss ich mich damit arrangieren, dass mein Recht auf körperliche Unversehrtheit – und das von Millionen anderer Menschen in Deutschland – zu Gunsten des Rechts der anderen eingeschränkt wird. Das ist ein Dilemma. Das ist Demokratie.
„Ich bin müde. Bitte lasst euch impfen.“
Corona, ein klassisches Grundrechtsdilemma – so, wie andere Dilemmata, die wir auch in unserer Ausstellung „Freiheit und ich“ thematisieren. Die im Grundgesetz verankerten Freiheitsrechte können in vielen Situationen unseres alltäglichen demokratischen Miteinanders in Widerspruch miteinander treten. Mal auf sehr abstrakte Art und Weise, mal ganz lebensnah wie jetzt in unserem Leben mit der Corona-Pandemie. Als Demokratin muss ich es aushalten, dass ein Teil der Menschen in unserem Land eine andere Meinung hat. Dass wir deswegen in einem Patt verharren, das niemandem zu voller Freiheit verhilft. Unsere Freiheit wird so lange engere Grenzen finden, als wir es bisher kannten, solange wir Menschen schützen müssen. Und damit meine ich nicht nur die vulnerablen Gruppen und die Kinder, für es noch keinen zugelassenen Impfstoff gibt, sondern auch die Menschen, die sich in den Krankenhäusern gerade die Füße wund laufen. Wir sind für sie verantwortlich, weil sie Verantwortung für uns übernehmen. Vielleicht muss ich als Demokratin aber auch mal stärker mein Grundrecht auf Meinungsfreiheit bemühen, Artikel 5 GG. Womöglich lesen Sie hier demnächst: „Ich habe ein Schild gemalt.“ Und auf diesem Schild steht dann: „Ich bin müde. Bitte lasst euch impfen.“ Und wem das nicht gefällt, der kann ja einfach weitergehen, äh, weiterklicken.
Noch etwas Optimismus
Weitergehen wird es auch mit unserer Wanderausstellung „Freiheit und ich“. Im Jahr 2022 wird sie an verschiedenen Orten in Deutschland zu sehen sein und Menschen dazu einladen, sich mit den Grundrechten und ihren Spannungsfeldern auseinanderzusetzen. Es stimmt mich optimistisch, dass diese kleine Ausstellung immer wieder Anlass zu Diskussionen bietet. Und dass sie auf unaufdringliche Art und Weise über Grundlegendes in unserer Demokratie erzählt. Die Grundrechte sind die Grundlage unseres freien Lebens. Deswegen sollten wir ihnen mehr Beachtung schenken und mehr darüber lernen, dass Rechte auch Verantwortung mit sich bringen. Wenn Sie kein Schild malen wollen, dann holen Sie doch „Freiheit und ich“ zu sich – in Ihre Volkshochschule, Ihr Rat- oder Gemeindehaus, Ihre Bildungseinrichtung oder Ihr Unternehmen. Wir schicken Ihnen die Ausstellung gerne zu.
Über „Freiheit und ich“
Die Ausstellung „Freiheit und ich“ der Nemetschek Stiftung war seit 2015 in mehr als 50 Orten in Deutschland zu sehen. Sie richtet sich an Jugendliche und Erwachsene gleichermaßen und animiert Besucher*innen dazu, die Freiheitsrechte des Grundgesetzes zu entdecken, eigene Haltungen zu reflektieren und zu diskutieren. Auf dieser Basis wird Verständnis für die Komplexität politischer Entscheidungsprozesse gefördert. Die Wanderausstellung eignet sich auch, Menschen mit Migrationshintergrund die Grundwerte der hiesigen Demokratie näherzubringen. Die Inhalte stehen als Broschüren auch in Englisch, Arabisch und Dari zu Verfügung. Mehr Informationen zur Ausstellung „Freiheit und ich“ finden Sie hier.
Titel: Freiheit und ich
Wann: 25.10.21 bis 01.02.22
Wo: Landeszentrale für Politische Bildung Rheinland-Pfalz
Am Kronberger Hof 6, 55116 Mainz