17. September 2020

Corona und Journalismus: „Hinterfragen ist jetzt wichtiger denn je“

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Die Corona-Pandemie hat auch das Arbeiten von Journalist*innen stark verändert. Süddeutsche-Redakteur Jan Heidtmann erzählt im Interview, warum Sorgfalt für ihn noch an Bedeutung gewonnen hat und was er bei der Berichterstattung über die Anti-Corona-Demos erlebt hat.

In der Pandemie hat die journalistische Sorgfalt an Bedeutung gewonnen. | © iStock/South_agency

Herr Heidtmann, wie haben Sie das journalistische Arbeiten seit Beginn der Pandemie erlebt?

Jan Heidtmann

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Vor allem im März und April war gravierend, dass man keine Leute treffen konnte. Es gab keine Termine, also auch wenig Anschauung für die Berichterstattung. Auch zu den Betroffenen der Corona-Pandemie konnte man nicht hingehen. Das hat meine Arbeit sehr beeinträchtigt. Journalistinnen und Journalisten arbeiten unterschiedlich, aber bei mir ist es schon so, dass ich Anschauung brauche und Menschen sehen muss, damit ich ein Gefühl für die Geschichte bekomme. Auch, dass der Austausch mit den Kolleginnen und Kollegen eher über digitale Formate abläuft, verändert das Arbeiten. Es geht Kreativität verloren, wenn die Gespräche in der Büroküche oder im Flur wegfallen. Ich bin jedenfalls froh, dass sich die Arbeitsabläufe langsam wieder normalisieren.

Wenn die Anschauung fehlt, ist es auch schwieriger, sich selbst ein Urteil zu bilden. Kann diese Art der Recherche und des Arbeitens im schlimmsten Fall auch das Bild verzerren?

Jan Heidtmann

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Das ist sicherlich so. Es hat ja auch seinen Grund, dass in den ersten Monaten der Pandemie sehr viele Journalistinnen und Journalisten über die Entstehungsbedingungen ihrer Geschichten berichtet haben. Da bin ich schon froh, dass das nicht mehr nötig ist. Was die Frage nach dem Urteil angeht: Mir führt die Pandemie wieder vor Augen, wie wichtig es ist, als Journalist vor Ort zu sein. Bestes Beispiel dafür waren die Demonstrationen gegen Corona-Beschränkungen im August in Berlin.

Sie haben ausführlich mit Teilnehmenden gesprochen. Warum war es so wichtig, vor Ort zu sein?

Jan Heidtmann

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Es haben an die 40.000 Menschen teilgenommen, aber die mediale Berichterstattung hat sich sehr auf das Erklimmen der Stufen des Reichstagsgebäudes konzentriert und kapriziert. Das waren natürlich spektakuläre Bilder mit einer sehr üblen Symbolik. Gleichzeitig gab es aber viele tausend Demonstrierende, über die anfangs nicht oder nur wenig berichtet wurde.

Die Bilder von Rechtsextremen auf den Stufen des Reichstagsgebäudes waren sehr präsent, es wurde von einem „Sturm auf den Reichstag“ berichtet. Welche Verantwortung tragen die Medien, wenn sie über solche Ereignisse berichten?

Jan Heidtmann

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Es ist eine große Verantwortung, das richtig einzuordnen. Die Bilder vom Reichstagsgebäude haben ja unheimliche symbolische Kraft und Bedeutung gewonnen. Und das war den Handelnden auch bewusst. Wir wissen jetzt, dass in Kreisen von Rechtsradikalen und Reichsbürger*innen genau dieses Szenario zumindest in Betracht gezogen wurde. Man muss also ernst nehmen, was passiert ist. Auf der anderen Seite: Eigentlich ist nicht sehr viel passiert. Niemand ist in den Bundestag vorgedrungen und die Gefahr bestand auch zu keinem Zeitpunkt. Was bleibt, ist also die Symbolik. Und da sollten Journalistinnen und Journalisten meiner Ansicht nach gut überlegen, wie viel Symbolik sie weitertragen. Teilweise wurde da in den ersten Tagen übers Ziel hinausgeschossen.

Inwiefern?

Jan Heidtmann

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Sich in der Berichterstattung derart auf den einen Moment zu konzentrieren und auf die Tatsache, dass da auch jede Menge Rechtsradikale unterwegs waren, ist meiner Ansicht nach zu wenig. Denn ein Stück weit bedient man damit deren Interessen. Teile der Berichterstattung können sie fast schon als Trophäe über ihr Bett hängen. Natürlich hat die Politik sich zu Recht und notwendigerweise empört geäußert, aber die Medien haben die Spirale weiter nach oben getrieben.

Sich in der Berichterstattung derart auf den einen Moment zu konzentrieren und auf die Tatsache, dass da auch jede Menge Rechtsradikale unterwegs waren, ist meiner Ansicht nach zu wenig. Denn ein Stück weit bedient man damit deren Interessen.Bild eines Anführungszeichens

Jan Heidtmann

Berlin-Korrespondent der Süddeutschen Zeitung

Sie selbst haben auch ausführlich mit Kritiker*innen der Corona-Maßnahmen gesprochen, die neben Reichsbürger*innen und Neonazis liefen, für sich aber beanspruchen, nicht mit den Rechten in einen Topf geworfen zu werden. Was haben Sie beobachtet und erlebt?

Jan Heidtmann

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Das ist auch so ein neues Phänomen: die merkwürdige und ungewohnte Zusammensetzung derjenigen, die gegen die Corona-Maßnahmen demonstrieren. Ich war selbst erstaunt, wie unterschiedlich die Teilnehmenden waren: Da waren Verschwörungsgläubige, meditierende Falun-Gong-Anhänger*innen, deutlich Rechtsradikale, an Signets zu erkennen, und Reichsbürger*innen. Aber da waren auch viele Menschen, die man flapsig wohl als „Ökos“ bezeichnen würde. Manche waren mit der ganzen Familie da. Das ist sehr schwer darzustellen.

Auf meine Berichterstattung rund um das Demonstrations-Wochenende in Berlin habe ich mehrere Hundert Zuschriften erhalten, teils harsch in der Wortwahl, teils radikal oder sogar bedrohlich. Es gab auch Abo-Kündigungen von Menschen, die schon seit 20 oder 30 Jahren die Süddeutsche Zeitung lesen.

Waren das mehr Reaktionen als sonst?

Jan Heidtmann

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Es gibt immer mal Themen, die die Menschen stärker berühren als andere, aber dies war schon eine Ausnahme. So etwas habe ich vorher selten erlebt.

Wie gehen Sie mit den Zuschriften um?

Jan Heidtmann

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Jede vernünftige Zuschrift – also im Ton o. k. und nicht anonym – habe ich beantwortet und zu einigen Schreibenden Kontakt aufgenommen. Darunter waren auch Menschen, die keiner Verschwörungslegende anhängen, die nicht rechtsradikal und keine Reichsbürger*innen sind und mit all dem wenig zu tun haben. Diese Menschen fühlen sich in ihrer Kritik und Skepsis gegenüber den Corona-Beschränkungen alleingelassen.

Von wem alleingelassen?

Jan Heidtmann

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Von der Politik, aber auch von den Medien. Mein Eindruck aus den Gesprächen ist: Die aus ihrer Perspektive vernünftige Kritik an den Corona-Beschränkungen möchten sie artikulieren, haben aber das Gefühl, das geht nur noch auf der Straße oder in den sozialen Medien. Von den klassischen Medien fühlen sie sich diffamiert, und das kann ich in Teilen auch nachvollziehen. In Berlin beispielsweise sind die Demonstrationen in mehrere Teile zerfallen, und es gab Bereiche, da hat man kaum Reichsbürger*innen oder Rechtsextreme gesehen. Die Menschen dort haben die Berichterstattung dann teilweise als beleidigend empfunden, da sie als Mitläufer der Rechten beschrieben wurden. Das sehe einerseits auch so, da Distanzierung der Veranstalter von Rechtsextremen halbherzig sind und sie das Grundgesetz nach eigenen Aussagen abschaffen wollen. Andererseits sehen manche der Demonstranten derzeit keinen anderen Weg, sich zu artikulieren als auf diesen Protesten.

Gibt es Lehren oder Konsequenzen für Ihre Arbeit, die Sie aus diesen Erfahrungen ziehen?

Jan Heidtmann

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Ich denke, Journalist*innen sollten jetzt besonders auf Präzision achten. Also genau hinschauen und sich nicht zu pauschalen Urteilen hinreißen lassen. Nur so kann man der immer stärkeren Polarisierung etwas entgegensetzen. Im Moment ist es doch so: Egal, was man zum Thema Corona schreibt, es hagelt immer Kritik und zwar von allen Seiten. Das lässt sich aushalten, aber es zeigt, wie aufgeladen die Stimmung ist.

Leicht ist das bei der Berichterstattung über die Pandemie aber nicht. Permanent gibt es neue Erkenntnisse über das Virus. Hinzu kommen Fake News und Meinungsmache. Ist es schwieriger geworden, Informationen zu filtern und zu prüfen?

Jan Heidtmann

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Ja, zum einen, weil im Internet so viele Informationen und Falschinformationen ungefiltert bei den Menschen ankommen. Da fällt es schwer, das, was man als Journalist*in für richtig hält, noch zu vermitteln.

Die Situation bei Corona finde ich besonders kompliziert. Denn ich bin kein Biologe, ich habe keine Ahnung von Virologie. Deshalb muss ich mich auf Expert*innen verlassen können. Gleichzeitig muss deren Arbeit auch immer wieder hinterfragt werden. Denn wie wir gesehen haben, haben wir in den vergangenen Monaten alle ständig dazulernen müssen.

Portrait Jan Heidtmann
Jan Heidtmann sieht den Journalismus vor besonderen Herausforderungen in Zeiten der Corona-Pandemie. | © Jan Heidtmann

Über Jan Heidtmann

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Jan Heidtmann ist Korrespondent der Süddeutschen Zeitung für Berlin und Brandenburg. Er hat zuletzt insbesondere über die Proteste gegen die Corona-Maßnahmen geschrieben.