Frau Dr. Moser, was hat Ihnen persönlich in der Corona-Zeit am meisten gefehlt? Welche Einschränkungen haben Sie erlebt?
Dr. Evelyn Moser
Was sind die Gefahren, wenn der Staat so stark in das Privatleben der Bürger*innen eingreift?
Dr. Evelyn Moser
Da die Bürger*innen sich komplett auf die eigenen vier Wände beschränken sollten, waren Entscheidungen im Privaten auf einmal politisch relevant. Wer zum Beispiel eine private Feier organisieren wollte, musste sofort mitdenken‚ ob es erstens erlaubt ist und zweitens, wie die Anderen eine derartige Einladung auffassen. Wir leben in einem Staat, in dem normalerweise private Freiheitsräume sehr stark respektiert werden und die Möglichkeiten zur privaten Entfaltung sehr vielfältig sind.
Welche Auswirkungen hat das auf die Akzeptanz des Staates und seiner Regeln durch die Bürger*innen?
Dr. Evelyn Moser
Schließlich hat der Staat schon bestimmte Dinge für die Bürger*innen vorentschieden. Und das Moment der Eigenverantwortung, welches in Demokratien etwas Zentrales ist, wird dadurch zurückgestellt oder zumindest nicht motiviert. Die dritte Gefahr ist, dass bei eingeschränkten Rechten die Freiheitsrechte schleichend unterlaufen werden und Einschränkungen am Ende nicht mehr zurückgenommen werden. Das ist, wie man auch im weiteren Verlauf der Pandemie sehen konnte, in Deutschland nicht passiert, ließ sich aber in vielen autokratischen oder halbautokratischen Regimen beobachten.
Die Bewältigung von umfassenden, globalen Problemen ist immer auch Gesellschaftsaufgabe.
Dr. Evelyn Moser
Soziologin
Von Verschwörungstheoretiker*innen und Extremist*innen mal abgesehen: Haben Sie Verständnis für Menschen, die zum Beispiel gegen die Corona-Maßnahmen demonstrieren?
Dr. Evelyn Moser
Entscheidend ist, dass es im politischen System eine Reflexion darüber gibt, dass es Pluralität, also verschiedene Menschen und Ansichten gibt, ohne dass diese direkt extrem sein müssen. Ohne diese Reflexion funktioniert Demokratie nicht.
Über Dr. Evelyn Moser
Dr. Evelyn Moser ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Forum Internationale Wissenschaft an der Universität Bonn. Dort ist sie in der Demokratieforschung beschäftigt. Die studierte Politikwissenschaftlerin und Volkswirtschaftlerin hat am Soziologischen Seminar der Universität Luzern promoviert. Im Heft „Corona-Krise“ der Zeitschrift „Aus Politik und Zeitgeschichte“ der Bundeszentrale für Politische Bildung hat sie einen Beitrag mit dem Titel „Rückzug des Politischen? Beobachtungen zur politischen Soziologie der Corona-Pandemie“ verfasst. Im Beitrag „Staat und Pandemie“ des „Heute-Journals“ äußert Dr. Evelyn Moser sich außerdem zu den Schwierigkeiten demokratischer Politik unter den Bedingungen der Pandemie. Ihre Forschungsinteressen drehen sich unter anderem um die Soziologie politischer Regime und die Soziologie des Marktes.
Ist diese Auseinandersetzung mit unterschiedlichen Meinungen in Deutschland manchmal zu kurz gekommen?
Dr. Evelyn Moser
Im weiteren Verlauf hat sich dieser Zustand dankenswerter Weise aufgelöst. Spätestens seit der Corona-Schutzimpfung war eine politische Verarbeitung zu spüren. Nun wurden Fragen gestellt, wie: „Dürfen Politiker*innen überhaupt noch von Schulschließungen sprechen?“ oder „Darf man über eine Impfpflicht diskutieren und, wenn ja, wie sollte diese aussehen?“. Auch über die Strukturierung der Impfung wurde viel diskutiert – „Wer ist zuerst dran? Wer muss erstmal noch warten?“.
Nach anderthalb Jahren Pandemie mit Ausgangssperren, Reise- und Kontaktverboten sowie massenweise verhängten Quarantänen wird es Zeit für ein Resümee: Was meinen Sie, wie hat die Corona-Pandemie unseren Blick auf unsere Freiheitsrechte verändert und tut das noch?
Dr. Evelyn Moser
Die pessimistische Antwort wäre, dass möglicherweise die eine oder der andere zu dem Schluss gekommen ist, dass es sich auch mit Einschränkungen ganz gut lebt, oder man empfindet es so, dass man gar nicht so viele Einschränkungen hatte. Das wäre gerade in einer Demokratie gefährlich. Die Einsicht, dass ein paternalistischer Staat, der tief ins Private eingreift, ein ganz bequemes Leben ermöglicht, wäre fatal.
Die rote Linie, die in der Auseinandersetzung über die Coronamaßnahmen nicht überschritten werden sollte, ist, dass diese Pandemie als Bedrohung anerkannt wird.
Dr. Evelyn Moser
Soziologin
Hat die Pandemie und die damit verbundene Einschränkung von Freiheitsrechten an unserem Vertrauen in den Staat gerüttelt?
Dr. Evelyn Moser
Was die Regierungen auf allen Ebenen meiner Ansicht nach noch lernen sollten, ist, dass es gefährlich ist, zu selbstsicher mit Lösungen aufzutreten. Nach dem Motto: „Wir haben die Lage im Griff und, wenn ihr auf uns hört, dann ist die Pandemie in einem halben Jahr vorbei.“ Denn das ist bei so umfassenden Problemen wie der Corona-Pandemie eine Illusion. Aus politischer Sicht, gerade wenn man gewählt werden möchte, ist es natürlich attraktiv, solche Lösungen zu versprechen. Am Ende sind diese Versprechungen jedoch nicht haltbar und Politiker*innen verspielen dadurch das Vertrauen der Bürger*innen.
Sie haben in Ihrem Essay „Rückzug des Politischen? Beobachtungen zur politischen Soziologie der Corona-Pandemie“ geschrieben, dass die Demokratie zur Krisenbewältigung über Ihre eigenen Prinzipien stolpert. Wie meinen Sie das?
Dr. Evelyn Moser
Hinzu kommt, dass ein Zustand, in dem alle in die Pflicht genommen werden für ein übergeordnetes Ziel, das als nicht verhandelbar gilt, einer Demokratie fremd ist. Zumal dann, wenn die erwartete Mitwirkung der Bürger*innen im Grunde erst mal weitgehend in Passivität besteht. Die Forderung hieß: „Zu Hause bleiben und sich ins Private zurückzuziehen und, eigentlich auch nicht zu widersprechen.“
Wie können liberale Demokratien wie Deutschland aus diesen Stolpersteinen lernen und ihr daraus gewonnenes Wissen zur Bewältigung gesellschaftlicher Probleme wie dem Klimawandel nutzen?
Dr. Evelyn Moser
Stattdessen hilft es, ein Bewusstsein dafür zu schaffen, dass jeder und jede auf die eine oder andere Weise zurückstecken werden muss. Und, dass man nicht nur mit Innovationen alles in den Griff bekommt. Doch dieses Bewusstsein für ein gutes Verhalten lässt sich meines Erachtens nicht nur über Verbote realisieren.
Zu guter Letzt: Was halten Sie von einer Teil-Impfpflicht für bestimmte Berufsgruppen wie Frankreich sie eingeführt hat?
Dr. Evelyn Moser