15. Oktober 2021

„Man kann Solidarität nicht politisch verordnen“

Plus Icon Corona-Pandemie//Gesellschaft//

Die Corona-Pandemie hat das Land gespalten. Es scheint, als stünden auf der einen Seite Pandemie-Leugner*innen und auf der anderen Seite Staatsbürger*innen, die sich dem Gemeinwohl entsprechend verhalten. Doch so einfach ist es nicht, sagt Soziologin Dr. Evelyn Moser im Interview.

Reisen, Feiern, das Leben genießen – in einer Demokratie werden Freiheiten normalerweise gefördert, statt beschränkt. | © IStock/Martin Dimitrov

Frau Dr. Moser, was hat Ihnen persönlich in der Corona-Zeit am meisten gefehlt? Welche Einschränkungen haben Sie erlebt?

Dr. Evelyn Moser

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Die stärkste Einschränkung war sicher, dass meine Kinder nicht zur Schule gehen konnten und das gesamte Alltagsleben zu Hause stattfinden musste. Der Job auf der einen Seite natürlich, und eben auch die Kinderbetreuung und das Homeschooling auf der anderen Seite. Darüber hinaus hat auch einfach die Möglichkeit, rausgehen zu können, gefehlt. Egal, ob zu Kulturveranstaltungen, oder in ein Café.

Was sind die Gefahren, wenn der Staat so stark in das Privatleben der Bürger*innen eingreift?

Dr. Evelyn Moser

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In Deutschland ist der Eingriff des Staates in das Privatleben der Bürger*innen in einem Ausmaß passiert, wie wir es in unserer deutschen Demokratie vorher nie erlebt haben. Gerade zu Anfang der Pandemie, im Frühjahr 2020. Die Grenze zwischen Öffentlichkeit und Privatem war zu diesem Zeitpunkt ganz stark verwischt.

Da die Bürger*innen sich komplett auf die eigenen vier Wände beschränken sollten, waren Entscheidungen im Privaten auf einmal politisch relevant. Wer zum Beispiel eine private Feier organisieren wollte, musste sofort mitdenken‚ ob es erstens erlaubt ist und zweitens, wie die Anderen eine derartige Einladung auffassen. Wir leben in einem Staat, in dem normalerweise private Freiheitsräume sehr stark respektiert werden und die Möglichkeiten zur privaten Entfaltung sehr vielfältig sind.

Welche Auswirkungen hat das auf die Akzeptanz des Staates und seiner Regeln durch die Bürger*innen?

Dr. Evelyn Moser

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Eine Gefahr, die daraus erwächst, ist potenziell zum einen natürlich, dass die Ablehnung dieser Form der staatlichen Regulierung steigt. Das haben wir bei den sogenannten „Coronaleugnerinnen“ und „Coronaleugnern“ gesehen. Was in die komplett andere Richtung eine Gefahr sein kann, ist, dass ein Staat, der stark in das Privatleben eingreift und auftritt als ein Staat, der durch diese Eingriffe bestimmte Problemlösungen für sich beansprucht, ab einem gewissen Grad eine Unmündigkeit der Bürger*innen auslöst.

Schließlich hat der Staat schon bestimmte Dinge für die Bürger*innen vorentschieden. Und das Moment der Eigenverantwortung, welches in Demokratien etwas Zentrales ist, wird dadurch zurückgestellt oder zumindest nicht motiviert. Die dritte Gefahr ist, dass bei eingeschränkten Rechten die Freiheitsrechte schleichend unterlaufen werden und Einschränkungen am Ende nicht mehr zurückgenommen werden. Das ist, wie man auch im weiteren Verlauf der Pandemie sehen konnte, in Deutschland nicht passiert, ließ sich aber in vielen autokratischen oder halbautokratischen Regimen beobachten.

Die Bewältigung von umfassenden, globalen Problemen ist immer auch Gesellschaftsaufgabe.Bild eines Anführungszeichens

Dr. Evelyn Moser

Soziologin

Von Verschwörungstheoretiker*innen und Extremist*innen mal abgesehen: Haben Sie Verständnis für Menschen, die zum Beispiel gegen die Corona-Maßnahmen demonstrieren?

Dr. Evelyn Moser

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Eine kritische Haltung zu haben, und Auseinandersetzungen und Streit einzufordern, ist meines Erachtens wichtig. Es ist elementar für eine Demokratie, dass Widerspruch erstmal möglich ist und auch akzeptiert werden kann. Doch es gibt diejenigen, die Kritik äußern an der Verhältnismäßigkeit der Maßnahmen, und diejenigen, die einen Schritt weitergehen. Die rote Linie, die nicht überschritten werden sollte, ist, dass diese Pandemie als Bedrohung anerkannt wird. Verschwörungstheoretiker*innen erkennen das nicht an. In dem Moment, in dem wissenschaftliche Erkenntnisse ignoriert werden, ist der Widerspruch gegen bestimmte Corona-Maßnahmen nicht legitim, dann gibt es keine gemeinsame Gesprächsgrundlage.

Entscheidend ist, dass es im politischen System eine Reflexion darüber gibt, dass es Pluralität, also verschiedene Menschen und Ansichten gibt, ohne dass diese direkt extrem sein müssen. Ohne diese Reflexion funktioniert Demokratie nicht.

Forscht an der Universität Bonn zu Demokratie und sieht ein zu starkes Eingreifen des Staates ins Private kritisch: Soziologin Dr. Evelyn Moser. | © privat

Über Dr. Evelyn Moser

Pfeil

Dr. Evelyn Moser ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Forum Internationale Wissenschaft an der Universität Bonn. Dort ist sie in der Demokratieforschung beschäftigt. Die studierte Politikwissenschaftlerin und Volkswirtschaftlerin hat am Soziologischen Seminar der Universität Luzern promoviert. Im Heft „Corona-Krise“ der Zeitschrift „Aus Politik und Zeitgeschichte“ der Bundeszentrale für Politische Bildung hat sie einen Beitrag mit dem Titel „Rückzug des Politischen? Beobachtungen zur politischen Soziologie der Corona-Pandemie“ verfasst. Im Beitrag „Staat und Pandemie“ des „Heute-Journals“ äußert Dr. Evelyn Moser sich außerdem zu den Schwierigkeiten demokratischer Politik unter den Bedingungen der Pandemie. Ihre Forschungsinteressen drehen sich unter anderem um die Soziologie politischer Regime und die Soziologie des Marktes.

Ist diese Auseinandersetzung mit unterschiedlichen Meinungen in Deutschland manchmal zu kurz gekommen?

Dr. Evelyn Moser

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In der ersten Phase der Pandemie, im Frühjahr 2020, ist die staatliche Politik ein bisschen über das Ziel hinausgeschossen, da sie sehr schnell auch konstruktive Kritik mit Verschwörungstheoretiker*innen und Coronaleugner*innen in einen Topf geworfen hat. Das hat zu einer Verhärtung dieser beiden Positionen beigetragen.

Im weiteren Verlauf hat sich dieser Zustand dankenswerter Weise aufgelöst. Spätestens seit der Corona-Schutzimpfung war eine politische Verarbeitung zu spüren. Nun wurden Fragen gestellt, wie: „Dürfen Politiker*innen überhaupt noch von Schulschließungen sprechen?“ oder „Darf man über eine Impfpflicht diskutieren und, wenn ja, wie sollte diese aussehen?“. Auch über die Strukturierung der Impfung wurde viel diskutiert – „Wer ist zuerst dran? Wer muss erstmal noch warten?“.

Nach anderthalb Jahren Pandemie mit Ausgangssperren, Reise- und Kontaktverboten sowie massenweise verhängten Quarantänen wird es Zeit für ein Resümee: Was meinen Sie, wie hat die Corona-Pandemie unseren Blick auf unsere Freiheitsrechte verändert und tut das noch?

Dr. Evelyn Moser

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Das müsste man im Einzelnen empirisch erforschen, um zu sehen, welche Positionen es da gibt und, ob man einen entsprechenden Standpunkt erkennen kann. Die optimistische Antwort auf die Frage wäre, dass die Zeit der Einschränkungen zu einer Wertschätzung der Freiheitsrechte beigetragen hat. Zum Beispiel hat man die Versammlungsfreiheit für selbstverständlich gehalten. Durch die Pandemie war sie das nicht mehr. Zudem wurde auch das Bewusstsein dafür geschärft, dass man auf Einschränkungen der Freiheitsrechte ein Auge haben sollte und diese eben nicht ewig andauern sollten.

Die pessimistische Antwort wäre, dass möglicherweise die eine oder der andere zu dem Schluss gekommen ist, dass es sich auch mit Einschränkungen ganz gut lebt, oder man empfindet es so, dass man gar nicht so viele Einschränkungen hatte. Das wäre gerade in einer Demokratie gefährlich. Die Einsicht, dass ein paternalistischer Staat, der tief ins Private eingreift, ein ganz bequemes Leben ermöglicht, wäre fatal.

Die rote Linie, die in der Auseinandersetzung über die Coronamaßnahmen nicht überschritten werden sollte, ist, dass diese Pandemie als Bedrohung anerkannt wird.Bild eines Anführungszeichens

Dr. Evelyn Moser

Soziologin

Hat die Pandemie und die damit verbundene Einschränkung von Freiheitsrechten an unserem Vertrauen in den Staat gerüttelt?

Dr. Evelyn Moser

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Gut wäre es, wenn die Bürger*innen realisiert haben, dass Situationen wie die Pandemie nicht von der Politik allein gelöst werden können, sondern dass die Bewältigung von Problemen immer auch eine Gesellschaftsaufgabe ist. Ein erhöhtes Verständnis dafür, dass sich die Politik erstmal tastend fortbewegt und daher nicht immer maßgeschneiderte Lösungen zu erwarten sind, wäre schön. Wer dieses Verständnis nicht aufbringt, wird in seinen Erwartungen an die Politik immer enttäuscht werden.

Was die Regierungen auf allen Ebenen meiner Ansicht nach noch lernen sollten, ist, dass es gefährlich ist, zu selbstsicher mit Lösungen aufzutreten. Nach dem Motto: „Wir haben die Lage im Griff und, wenn ihr auf uns hört, dann ist die Pandemie in einem halben Jahr vorbei.“ Denn das ist bei so umfassenden Problemen wie der Corona-Pandemie eine Illusion. Aus politischer Sicht, gerade wenn man gewählt werden möchte, ist es natürlich attraktiv, solche Lösungen zu versprechen. Am Ende sind diese Versprechungen jedoch nicht haltbar und Politiker*innen verspielen dadurch das Vertrauen der Bürger*innen.

Sie haben in Ihrem Essay „Rückzug des Politischen? Beobachtungen zur politischen Soziologie der Corona-Pandemie“ geschrieben, dass die Demokratie zur Krisenbewältigung über Ihre eigenen Prinzipien stolpert. Wie meinen Sie das?

Dr. Evelyn Moser

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Ich meine damit, dass diese sehr regulierende Art und Weise, wie der Staat auf die Pandemie in den ersten Monaten reagiert hat, im Widerspruch zu den Grundprinzipien liberaler Demokratien steht. Wie schon angesprochen, die Grenze zwischen Öffentlichem und Privatem ist sehr porös geworden. Im Grunde wurde Solidarität eingefordert, dabei ist Solidarität etwas, das man nicht verordnen kann. Solidarität ist zudem auch keine notwendige Voraussetzung für das Bestehen einer Demokratie. Natürlich ist die Existenz von Solidarität etwas Wünschenswertes, doch man kann Solidarität nicht an Sanktionen gekoppelt, einfordern.

Hinzu kommt, dass ein Zustand, in dem alle in die Pflicht genommen werden für ein übergeordnetes Ziel, das als nicht verhandelbar gilt, einer Demokratie fremd ist. Zumal dann, wenn die erwartete Mitwirkung der Bürger*innen im Grunde erst mal weitgehend in Passivität besteht. Die Forderung hieß: „Zu Hause bleiben und sich ins Private zurückzuziehen und, eigentlich auch nicht zu widersprechen.“

Wie können liberale Demokratien wie Deutschland aus diesen Stolpersteinen lernen und ihr daraus gewonnenes Wissen zur Bewältigung gesellschaftlicher Probleme wie dem Klimawandel nutzen?

Dr. Evelyn Moser

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Ich denke, dass es beim Klimawandel ganz ähnlich gelagerte Probleme gibt und dass auch hier jede, jeder das Bewusstsein dafür haben sollte, dass die Politik allein dieses globale Problem nur begrenzt stemmen kann. Im Zentrum steht, wie bei der Pandemie auch, ein gesellschaftlicher Imperativ. Doch auch bezogen auf den Klimawandel kann der Staat Solidarität nicht politisch einfordern.

Stattdessen hilft es, ein Bewusstsein dafür zu schaffen, dass jeder und jede auf die eine oder andere Weise zurückstecken werden muss. Und, dass man nicht nur mit Innovationen alles in den Griff bekommt. Doch dieses Bewusstsein für ein gutes Verhalten lässt sich meines Erachtens nicht nur über Verbote realisieren.

Zu guter Letzt: Was halten Sie von einer Teil-Impfpflicht für bestimmte Berufsgruppen wie Frankreich sie eingeführt hat?

Dr. Evelyn Moser

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Für die Impfpflicht für bestimmte Berufsgruppen kann es schon sehr gute Gründe geben. Was eine allgemeine Impfpflicht betrifft, bin ich aber skeptisch. Die Corona-Schutzimpfung ist praktizierte Solidarität. Das übergeordnete Ziel ist die Pandemiebekämpfung. Dafür nimmt man bestimmte Risiken in Kauf, nämlich eventuelle Nebenwirkungen. In Deutschland ist die Impfung zwar nicht verpflichtend verordnet, aber es wird Ungeimpften so ungemütlich wie möglich gemacht.