30. September 2021

Plädoyer für analoge Hinterzimmer

Plus Icon Demokratie//Wahlen//

Nach der Wahl ist vor den Koalitionsverhandlungen: Prof. Dr. Ursula Münch, Direktorin der Akademie für Politische Bildung in Tutzing, empfiehlt mehr Diskretion, weniger Klein-Klein und stete Gespräche zwischen Alten und Jungen – das ganze Jahr über.

Wer kann mit wem? Diese Regierungsbildung wird auf jeden Fall spannend. | © Adobe Stock/Andreas Prott

Frau Prof. Münch, diese Bundestagswahl wurde mit vielen Titeln versehen. Eine Richtungswahl sollte sie sein, von historischem Ausmaß, das Ende einer Ära, usw. Wurde die Wahl diesen Erwartungen gerecht?

Prof. Dr. Ursula Münch

Plus-Symbol
Der Wahlkampf war nicht allzu inspirierend, viele Themen wurden nicht behandelt. Aber die Wahl ist natürlich sehr wichtig, weil nach 16 Jahren Merkel-Regierung diese große Veränderung ansteht. Die Wahl selbst fand ich auch schon deutlich spannender als den Bundestagswahlkampf, und ich denke, die Regierungsbildung wird es auch.

Welche Themen haben Sie im Wahlkampf vermisst, was hätte ihn für Sie spannender gemacht?

Prof. Dr. Ursula Münch

Plus-Symbol
 Ich denke, ich bin nicht die Einzige, die sich eine stärkere Diskussion über Zukunftsentwürfe gewünscht hätte. Es sind viele Schlagworte wie Klimawandel oder Digitalisierung gefallen, aber letztlich blieben die Antwort aus, wie der Weg zu diesen Veränderungen aussehen soll, welche unterschiedlichen Entwürfe die Parteien haben. Ich hätte mir Ideen für die Frage erhofft, wie man die Antworten auf den Klimawandel mit den Notwendigkeiten einer Exportindustrie vereinbart. Es wäre schön gewesen, wenn diese großen Themen in den vielen Wahlsendungen, die uns präsentiert wurden, stärker zum Ausdruck gekommen wären.

Davon habe ich mir auch deshalb mehr gewünscht, weil es schon in den letzten 16 Jahren zu kurz gekommen ist. Wir haben zu wenige Zukunftsentwürfe gesehen, zu wenige Antworten darauf, wo jetzt eigentlich die großen Unterschiede zwischen den Parteien sind.

In den Sondierungsgesprächen und Koalitionsverhandlungen müssten diese Fragen auf den Tisch kommen.

Prof. Dr. Ursula Münch

Plus-Symbol
Die Kunst wird aber sein, sich nicht nur an den Spiegelstrichen abzuarbeiten, sondern auch den Blick auf das große Ganze zu haben: Wo wollen wir hin? Wo sind Ansätze, etwas zu erreichen? Die Parteien in Deutschland neigen schon seit Jahren dazu, als Koalitionspartner alles bis ins letzte Detail festzulegen. Das ist aber keine gute Strategie, denn es kommt immer anders, als man denkt. Niemand hat Fukushima vorhergesehen oder die Pandemie.

Ich gehe davon aus, dass es auch innerhalb der CDU noch mehr Distanzbewegungen zu Herrn Laschet geben wird.Bild eines Anführungszeichens

Prof. Dr. Ursula Münch

Direktorin der Akademie für Politische Bildung in Tutzing

Hinzu kommt, dass sehr wahrscheinlich bald ein Dreierbündnis regieren wird. Das gab es im Bund seit Jahrzehnten nicht mehr. Müssen nun alle kompromissbereiter werden?

Prof. Dr. Ursula Münch

Plus-Symbol
Natürlich. Auf Landesebene wurden da schon Erfahrungen gesammelt. Einige der Verhandlungspartner treffen sich jetzt im Bund wieder, das mag helfen, wenn es auch um andere Themen geht. Eine Vorgehensweise könnte sein, dass sich die koalierenden Parteien im Vorfeld darauf verständigen, dass jede Partei die Möglichkeit hat, ein ihr wichtiges Thema intensiver selbst zu prägen. Das sollte dann im Koalitionsvertrag nicht zu detailliert festgelegt und geregelt werden. Aber auch das ist einfacher gesagt als getan. Die Österreichische Bundesregierung hat das versucht, und es ist nur bedingt gelungen.

Wo liegen die Hürden?

Prof. Dr. Ursula Münch

Plus-Symbol
Der Nachteil ist, dass die Parteien dann auch Positionen der Koalitionspartner mittragen und ertragen müssen, die gegen jede eigene Grundüberzeugung gehen. Das ist fast unmöglich. Also liegt auch hier die Lösung im Mittelweg. Falsch wäre die Haltung „wer setzt sich durch?“ oder „wer hat wen besiegt?“. Alleingestaltungsmöglichkeit hat niemand, denn eine Regierung ist auch ein Kollegialorgan. Jeder Partner muss den anderen auch Erfolge gönnen. Vielsprechend wäre es, auf einigen zentralen Feldern gemeinsame Vorhaben vorzustellen.

2017 haben sich die Koalitionsverhandlungen als schwierig erwiesen. Es wurde viel über Details gesprochen und zu spät festgestellt, dass keine Einigkeit bei der großen Linie herrscht. Fast ein halbes Jahr verging bis zur Regierungsbildung. Jetzt ist die Pandemie noch nicht überwunden, große Aufgaben stehen an und es herrscht das Gefühl, keine Zeit verlieren zu können. Aber wird es diesmal schneller gehen?

Prof. Dr. Ursula Münch

Plus-Symbol
Hoffen kann man es, ich glaube nicht richtig daran. Die Pandemie schafft einen äußeren Druck und sicher will sich die geschäftsführende Bundesregierung davon schnell befreien, auch weil der neue Bundestag sich so anders zusammensetzen wird als der bisherige. Die Frage, wie schnell es gehen kann, hängt auch daran, ob noch ein Versuch unternommen wird, eine Jamaika-Koalition aus CDU, Grünen und FDP zu bilden. Ich halte das für unrealistisch, aber es würde den Prozess verlangsamen.

Bei der letzten Jamaika-Sondierung 2017 war ein gewisser Hang zur öffentlichen Inszenierung zu beobachten. Das sollte sich nicht wiederholen. Ich rate zu mehr Gesprächen hinter verschlossenen Türen, am besten ohne Zugriff auf Twitter. Wenn ständig alles nach außen getragen wird, erschwert das die Verhandlungen. Ich bin bei Koalitionsverhandlungen für deutlich mehr Hinterzimmer, am besten analoge.

Wünscht sich mehr Zukunftsentwürfe: Prof. Dr. Ursula Münch, Direktorin der Akademie für Politische Bildung in Tutzing. | © Akademie für Politische Bildung

Über Prof. Dr. Ursula Münch

Pfeil

Prof. Dr. Ursula Münch ist Professorin für Politikwissenschaft. Von ihrer Tätigkeit an der Universität der Bundeswehr München ist sie seit ihrer Berufung zur Direktorin der Akademie für Politische Bildung im Jahr 2011 beurlaubt.

Welche Spielräume würde das eröffnen?

Prof. Dr. Ursula Münch

Plus-Symbol
Es würde die Gespräche präziser, konzentrierter machen. Die Koalitionsgespräche würden weniger Raum für Inszenierung bieten und mehr Raum für Sacharbeit. Aber das ist ein frommer Wunsch: Wir leben in einer digitalisierten Gesellschaft, und natürlich haben auch die verschiedenen Mitglieder von Verhandlungsdelegationen ein Geltungsbedürfnis und wollen Kontakte zu Journalist*innen pflegen. Aber das bekommt den Gesprächen nicht. In vertraulichen Gesprächen kann man mehr ausloten. Sobald alles nach außen getragen wird, hat jeder Parteipolitiker, jede Parteipolitikerin die eigenen Mitglieder an der Backe.

Warum halten Sie Jamaika für unrealistisch?

Prof. Dr. Ursula Münch

Plus-Symbol
Ich sehe im Moment nicht, dass Armin Laschet in seiner eigenen Partei genügend Rückhalt hat, um als Zweitplatzierter diese Gespräche zu führen. Ich interpretiere die jüngsten Stellungnahmen von CDU- und CSU-Politiker*innen so, dass die Haltung überwiegt: Wie kommen wir dazu, aus einer Verliererposition tatsächlich regieren zu wollen?

Dann bleiben aber nicht mehr so viele Optionen übrig.

Prof. Dr. Ursula Münch

Plus-Symbol
Nein, dann bliebe erstmal nur die Ampel. Aber das dauert dennoch lang, es wird nicht ratzfatz gehen. Die Überschneidungen sind bei einem Bündnis aus SPD, Grünen und FDP ja eher noch geringer als bei Jamaika, weil die FDP noch stärker in eine blockierende Position hineingeraten könnte. Denn die Liberalen haben weder mit den Sozialdemokraten noch mit Grünen allzu viele Überschneidungen. Man wird ihnen mehr Zugeständnisse machen müssen.

Also werden die nächsten Wochen spannend, spannender als der Wahlkampf vielleicht?

Prof. Dr. Ursula Münch

Plus-Symbol
Auf jeden Fall, allein der Wahlabend und die letzten Tage waren schon sehr spannend und ich denke, da wird es noch mehr interessante Entwicklungen geben. Denn ich gehe davon aus, dass es auch innerhalb der CDU noch mehr Distanzbewegungen zu Herrn Laschet geben wird.

Die Jungen müssen sich bewusst machen, dass sie, wenn sie schon so wenige sind, dann wenigstens zum Wählen gehen und ihre Möglichkeiten voll ausschöpfen sollten.Bild eines Anführungszeichens

Prof. Dr. Ursula Münch

Direktorin der Akademie für Politische Bildung in Tutzing

Nochmal übergeordnet gefragt: Junge Menschen haben mehrheitlich andere Parteien gewählt, als die älteren Generationen. Wird es Zeit für ein Wahlrecht ab 16 Jahren?

Prof. Dr. Ursula Münch

Plus-Symbol
Grundsätzlich spricht einiges dafür. Aber man sollte sich davon auch nicht zu viel versprechen. Warum? Weil es an dieser krassen Disbalance zwischen den jüngeren Wähler*innen und den Älteren über 60 Jahren verdammt wenig ändert. Dafür ist die Altersgruppe, die hinzukommt, zu klein. Man kann das schon machen, dann sind es wenigstens ein paar Junge mehr, die wählen dürfen. Aber das ändert nichts an der unterdurchschnittlichen Wahlbeteiligung junger Wähler*innen. Bei Erstwählenden geht es noch, bei Zweitwählenden ist es ganz problematisch. Deshalb ist das Wahlrecht ab 16 aus meiner Sicht kein Patentrezept.

Welche anderen Instrumente gäbe es?

Prof. Dr. Ursula Münch

Plus-Symbol
Man könnte ein sog. Familienwahlrecht einführen, dann hätten Eltern mehr Stimmen. Diesen Vorschlag gab es sogar schon kurz vor Kriegsende, damals aus den Reihen des „Kreisauer Kreises“. Später wurde er von einer Verfassungsrechtsexpertin der SPD nochmal vorgebracht. Dafür müsste allerdings das Grundgesetz geändert werden. Und es ist keineswegs sicher, dass Eltern wirklich im Interesse ihrer Kinder abstimmen. Man hofft es, aber man weiß es nicht.  Daneben bleiben dann nur noch „weiche“ Maßnahmen.

Welche?

Prof. Dr. Ursula Münch

Plus-Symbol
Mein Dauerplädoyer lautet: Die Jungen müssen sich bewusst machen, dass sie, wenn sie schon so wenige sind, dann wenigstens zum Wählen gehen und ihre Möglichkeiten voll ausschöpfen sollten. Außerdem nützen offene Briefe drei Tage vor der Wahl wenig, in denen junge Leute aufgefordert werden, mit Eltern und Großeltern politische Themen zu diskutieren. Das sollte man die ganze Legislaturperiode lang machen. Jeder und jede Einzelne von uns ist ein politisch denkender Mensch – unabhängig vom Wahlalter. Und wenn Junge und Alte mehr miteinander über Politik, die Gestaltung der Zukunft, über Klimawandel, die Digitalisierung und Schulpolitik sprechen würden, würde das allen guttun. Unter Umständen würde das die Älteren auch stärker für die Themen der Jugend interessieren.

Die AfD hat insgesamt Stimmen verloren, ist aber in Thüringen und Sachsen stärkste Kraft geworden. In einem anderen ostdeutschen Bundesland – Mecklenburg-Vorpommern – wurde sie aber von der SPD zurückgedrängt. Was sagt uns dieses Bild?

Prof. Dr. Ursula Münch

Plus-Symbol
Es ist hochinteressant, sich die Direktmandate auf der Deutschlandkarte anzuschauen. Man sieht dort – was wir schon öfter hatten – vor allem im Osten Blaueinfärbungen. Grüne und FDP spielten bei der Bundestagswahl dort kaum eine Rolle. Und – das ist meines Erachtens zu bedauern – auch die Union hat im Osten stark verloren. Die SPD hingegen ist im Moment die einzige Kraft, die im Osten und Westen gleichermaßen (relativ) stark ist. Meiner Ansicht nach ist es aber eine ganz wichtige Aufgabe für alle Parteien – und für die Volksparteien besonders – in der ganzen Bundesrepublik präsent zu sein. Andernfalls verstetigt sich nach zig Jahren Deutscher Einheit die Verhärtung zwischen West- und Ostdeutschland. Dann gibt es unterschiedliche Parteiensysteme, andere Parteipräferenzen, andere Gesellschaftskonzepte. Da sollten sich alle dagegenstemmen. Denn wir können uns im Westen nicht auf den Standpunkt stellen, das seien ja bloß zehn Millionen Wahlberechtige im Osten. Schließlich sind wir ein vereintes Land.