19. September 2024

„Da hat sich was zusammengebraut“

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Nach den Landtagswahlen in Sachsen und Thüringen ist vor den Landtagswahlen in Brandenburg. Trotz steigender Wahlbeteiligung blicken viele Menschen mit Sorge auf die politische Entwicklung in den ostdeutschen Bundesländern. Warum das so ist und wie es um das gesellschaftliche Klima steht, darüber haben wir mit Henry Bernhard, Deutschlandradio-Landeskorrespondent für Thüringen, gesprochen, der seine persönlichen Eindrücke mit uns teilt.

Nach den Landtagswahlen zeichnen sich in Erfurt und Dresden schwierige Koalitionsgespräche ab. © istock/steglitzer

Am 1. September 2024 wurde in Sachsen und Thüringen ein neuer Landtag gewählt. In beiden Ländern hat sich ein großer Teil der Wähler*innen für das Bündnis Sarah Wagenknecht (BSW) oder die Alternative für Deutschland (AfD) entschieden (Thüringen: zusammen 48,6 Prozent bzw. 47 von 88 Sitzen im Parlament; Sachsen: zusammen 42,4 Prozent bzw. 55 von 120 Sitzen im Parlament). Im Thüringer Landtag ist die AfD sogar stärkste politische Kraft geworden und hat mit 32 Sitzen eine Sperrminorität. Das bedeutet: Auch wenn niemand mit der rechtsextremen Partei eine Regierungskoalition bilden will, kann sie wichtige Entscheidungen im Landtag blockieren.

Herr Bernhard, was waren Ihre Gedanken nach den ersten Hochrechnungen am Wahlsonntag?

Henry Bernhard

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Das Ergebnis war für mich keine Überraschung. Die Entwicklung hat sich seit Jahren abgezeichnet. „Es muss sich was verändern“, das ist der wichtigste Satz, den man in Gesprächen mit Wählerinnen und Wählern immer wieder hört. Der Satz ist nicht immer konkret unterfüttert. Er hängt oft mit einer diffusen Unzufriedenheit mit der Ampel, mit Koalitionsstreit oder unausgegorenen Gesetzesentwürfen zusammen. Diese Unzufriedenheit wird von der AfD – und nun auch vom BSW – aufgegriffen; beide Parteien verstehen es, eine Art „Heilserwartung“ zu wecken. Gleichzeitig begegnet man bei den bürgerlichen Parteien häufig einer großen Ratlosigkeit bis hin zu Angst und Verunsicherung. Es fehlt die Bereitschaft, die Fehler, die man beispielsweise in der Migrationspolitik gemacht hat, öffentlich aufzubereiten.

Können Sie ein konkretes Beispiel nennen?

Henry Bernhard

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Dass der Ausländeranteil in Erfurt oder Gera bei über 12 Prozent liegt, das wäre in vielen westdeutschen Städten, in denen die Gastarbeiterfamilien seit Jahrzehnten dazugehören, gar kein Thema. Hier hat sich die Entwicklung innerhalb weniger Jahre vollzogen. Aber über die daraus resultierenden Probleme wird nicht geredet. Ein Beispiel: Die thüringische Erstaufnahmeeinrichtung in Suhl war 2023 mit 1.600 Menschen deutlich überbelegt. Das hat sich in einer steigenden Zahl von Delikten wie Ladendiebstählen und Körperverletzungen niedergeschlagen und so weit geführt, dass der Betriebsrat der Südthüringenbahn angesichts zunehmender Übergriffe vor allem auf Mitarbeiterinnen einen Warnruf veröffentlicht hat. Daraufhin wurde zwar mehr Sicherheitspersonal in Nahverkehrszügen auf der Bahnstrecke Erfurt-Suhl-Meiningen eingesetzt, aber über die Gründe dafür geht die Landesregierung einfach hinweg. Dieser Umgang ist ein großer Fehler.

Die Wahlbeteiligung in Thüringen und Sachsen lag erstmals seit Jahren wieder bei über 70 Prozent. Eigentlich ein Gewinn für die Demokratie. Warum haben sich so viele Menschen für die extreme Rechte entschieden?

Henry Bernhard

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Viele Wählerinnen und Wähler in den ostdeutschen Bundesländern sind über Jahre und Jahrzehnte nicht mehr angesprochen worden. In manchen Wohngebieten lag die Wahlbeteiligung zum Teil nur noch bei 30 Prozent. Fachleute haben schon vor zehn Jahren vor einer Repräsentationslücke gewarnt und darauf aufmerksam gemacht, dass sich da etwas zusammenbraut. Spätestens zu diesem Zeitpunkt hätte es Angebote geben müssen für die Leute, die sich nicht mehr repräsentiert fühlen. Jetzt sehen wir: Die AfD ist eine Arbeiterpartei geworden, die Menschen sind verloren gegangen für die klassischen Parteien.

Macht sich dieser Rechtsruck auch im Alltag bemerkbar?

Henry Bernhard

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Ja, die Stimmung hat sich schon verändert. Es ist ein anderer Sound des Umgangs geworden miteinander. Gerade im ländlichen Raum, und das ist in Thüringen ja alles außerhalb von Erfurt, Weimar und Jena. Es fällt heute scheinbar leichter, jemanden anzupöbeln. Viele Menschen fühlen sich mit so einem Verhalten nicht mehr alleine, sondern auf der „richtigen“ Seite. Man spürt das auch an den Reaktionen gegenüber Personen, die den Kopf rausstrecken und sich klar positionieren. So wurden zum Beispiel Morddrohungen gegen Prof. Dr. Jens-Christian Wagner, den Direktor der Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora, ausgesprochen. Und auch die Angriffe auf Opferberatungsstellen häufen sich. Vieles passiert noch verbal, aber auch das ist eine unangenehme Sache und möglicherweise die Vorstufe zu etwas anderem. Demgegenüber verhält sich die Zivilgesellschaft relativ still aktuell.

Es ist ein anderer Sound des Umgangs geworden miteinander.Bild eines Anführungszeichens

Henry Bernhard

Deutschlandradio-Korrespondent

Welche Rolle spielen die sozialen Netzwerke?

Henry Bernard

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Insbesondere die AfD kann Social Media richtig gut. Das sieht gut aus, das ist technisch top gemacht, das ist provokant und regt dazu an, auf die Inhalte zu reagieren. Da sehe ich nichts Vergleichbares in irgendeiner anderen Partei. Und insbesondere die jungen Leute werden genau damit angesprochen. Ich habe von Probewahlen an Schulen gehört, da wählen 60 Prozent der Schülerinnen und Schüler die AfD.

Als Deutschlehrerin fand ich toll, dass es einen Artikel gegeben hat, der sich mit der Veränderung von Sprache beschäftigte. Die Verfasserin hat beleuchtet, wie viele Vokabeln aus dem psychotherapeutischen Bereich in der Alltagssprache auftauchen, wie etwa toxisch, Trauma, Trigger – und wie sich der Wortschatz verändert.

Auch das BSW gehört zu den Gewinnern der zurückliegenden Landtagswahlen. Was hat Ihrer Meinung nach das gute Abschneiden begünstigt?

Henry Bernhard

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Generell ist es bisher schwierig, die Partei zu verorten. Es gibt nur sehr kurze Wahlprogramme und keine klare Richtung. Gesellschaftspolitisch ist man eher konservativ, arbeitsmarktpolitisch eher links. Außenpolitisch zählt jedoch vor allem die Unterwerfung unter Putin. Da leuchten die Augen der Leute, da gibt es auf den Veranstaltungen am meisten Beifall fürs BSW. Die Partei verspricht: Wir schaffen hier Frieden, das ist nicht euer Krieg und ihr kriegt wieder billiges Gas. Dass dabei die Menschen in der Ukraine vor den Bus gestoßen werden, ist den Leuten scheinbar egal. Dahinter steht gar nicht mal Sympathie für Putin. Dahinter steht eine Mischung aus Antiamerikanismus und dem Gefühl, „dem Westen eins auswischen“ zu können. Das hat die Wahl sehr maßgeblich beeinflusst.

Wie blicken Sie auf die kommenden Wochen und Monate?

Henry Bernhard

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Politisch wird sich die Stimmung in Thüringen eher nicht verbessern. Die AfD kann im Landtag mehr mitbestimmen. Gleichzeitig wird die Koalition vor allem ein Ziel vereinen: die AfD von der Macht fernzuhalten. Höcke und Co. werden das für sich zu nutzen wissen. Schon die anstehende Wahl des Parlamentspräsidenten könnte verfassungsrechtliche Fragen aufwerfen. Vor der Landtagswahl in Brandenburg wird in jedem Fall nicht viel passieren, weil niemand das Ganze negativ beeinflussen möchte. Es ist wie gesagt eine große Unsicherheit da.

AfD und BSW verstehen es, eine Art „Heilserwartung“ zu wecken.Bild eines Anführungszeichens

Henry Bernhard

Deutschlandradio-Korrespondent

Welches Ergebnis erwarten Sie in Brandenburg?

Henry Bernhard

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Die Situation ist nochmal etwas anderes, weil es in Brandenburg weiterhin eine starke SPD gibt. Davon kann man in Thüringen und Sachsen ja nicht mehr sprechen. Gleichzeitig haben die Menschen in Brandenburg am Beispiel Thüringen gesehen: Die Stimme für die AfD muss nicht verloren sein, mit der Sperrminorität können sie Einfluss bekommen. Das kann motivieren, die AfD zu wählen. Das kann aber auch andere motivieren, eine andere Partei zu wählen. Es wird in jedem Fall spannend, SPD und AfD liegen aktuell fast Kopf an Kopf.

Was sagen die Wahlergebnisse im Osten über die gesamtdeutsche Lage aus?

Henry Bernhard

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Ich glaube, dass es zwischen Ost und West wieder weiter auseinander geht. Man verspürt in den ostdeutschen Bundesländern aktuell einen großen Unmut und hat gleichzeitig über 30 Jahre Demokratiebildung versäumt. 1990 ging es ja mehr um die D-Mark statt um den Grundrechtekatalog. Gleichzeitig muss man sagen: Schon oft hat der Westen auf den Osten gezeigt, um dann fünf Jahre später festzustellen, dass dieselben Dinge auch im Westen passieren. Die AfD beispielweise wurde lange als ostdeutsches Problem wahrgenommen – bis sie im vergangenen Jahr bei der Landtagswahl in Hessen mit 18,4 Prozent drittstärkste Kraft wurde. Nicht der Osten hat ein Problem, wir haben ein Problem.

Über Henry Bernhard

Pfeil

Henry Bernhard wurde 1969 in Brandenburg geboren, seine Kindheit und Schulzeit verbrachte er in Thüringen. In Göttingen studierte Bernhard Politik, Publizistik, VWL und Öffentliches Recht bevor er 1990 mit seiner Arbeit für den Rundfunk begann. Erst als Reporter, bald als Feature-Autor und Regisseur. Seit Oktober 2013 ist der Journalist Landeskorrespondent Thüringen des Deutschlandradios.