26. Mai 2021

„Der bemerkenswerteste Wahlkampf, den wir jemals hatten“

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Wer folgt auf Angela Merkel? Prof. Dr. Ursula Münch, die Direktorin der Akademie für Politische Bildung, über eine ungewöhnliche Kandidatenkür, die wichtigsten Erfolgsfaktoren und die Frage nach der Begrenzung der Amtszeit.

Kampf ums Kanzleramt - Bundestagswahl 2021
Im Herbst entscheiden die Wählerinnen und Wähler, wer Angela Merkel im Kanzleramt folgen wird. | © iStock/PatrickPoendl

Zum ersten Mal seit 2005 tritt bei einer Bundestagswahl die Amtsinhaberin nicht mehr an. Müssen die Parteien das Aufstellen von Kanzlerkandidatinnen und -kandidaten unter dieser Voraussetzung erst wieder lernen?

Prof. Dr. Ursula Münch

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Es ist tatsächlich so, dass die Parteien sich umstellen müssen. Die Grünen und die SPD setzen darauf verstärkt Hoffnungen. Für sie ist das im Grunde eine Ermutigung, während es für die Union eine größere Herausforderung wird, nicht mehr mit einer erfolgreichen Amtsinhaberin antreten zu können. Und mit der Pandemie haben wir eine doppelt neue Situation im Wahljahr. Das wird sicherlich der bemerkenswerteste Wahlkampf, den wir jemals hatten.

Wie beurteilen Sie das in Deutschland gewohnte Verfahren zur Bestimmung von Kanzlerkandidatinnen und -kandidaten?

Prof. Dr. Ursula Münch

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Wir erleben dieses Mal bei allen drei Parteien, dass sie ungewöhnliche Wege beschritten haben, um ihre Kanzlerkandidatin oder ihren ‑kandidaten zu bestimmen. Wir haben zum ersten Mal die Situation, dass die Grünen eine Kandidatin stellen. Das Ungewöhnliche daran ist auch, dass man das im kleinen Kreis gemacht hat, mit anschließender Legitimation durch einen Parteitag. Und für die Wählerinnen und Wähler ist es das erste Mal, dass die Konstellation nicht heißt: SPD-Kandidat versus Unions-Kandidat. Wir hatten zwar bereits einmal einen Kanzlerkandidaten einer dritten Partei – der FDP, das war 2002 mit Guido Westerwelle – aber das war eher ein Werbegag. Die Union, die ihre Kandidatenkür – mit Ausnahme des Jahres 1980 – eigentlich immer relativ reibungslos gestaltet hat, ist immer in einer besonderen Lage, weil es eben zwei Parteien gibt, die sich einigen müssen. Auch die SPD hat sich dezidiert für ein anderes Verfahren als üblich entschieden. Zuvor ist die SPD immer holterdiepolter und unvermittelt zu einem Kanzlerkandidaten gekommen und hat die Öffentlichkeit überrascht. Diesmal hat sich die SPD für ein deutlich anderes Verfahren entschieden, mit dem Nachteil, dass man im Grunde nicht spektakulär war und die Menschen fast schon wieder vergessen hatten, dass die SPD die Kandidatenkür bereits im vergangenen Sommer abgeschlossen hat. Alle drei Parteien haben ein anderes Verfahren gewählt, als man von ihnen kannte.

Superwahljahr 2021

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Bei einer demokratischen Wahl können Bürgerinnen und Bürger Einfluss auf die Geschicke ihres Landes nehmen. 2021 gibt es dazu reichlich Gelegenheit: Am 14. März waren in Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz Landtagswahlen, in Hessen Kommunalwahlen. Am 6. Juni wird in Sachsen-Anhalt ein neuer Landtag gewählt. Am 12. September stehen Kommunalwahlen in Niedersachsen an. Der 26. September ist der Tag der Bundestagswahl, Berliner*innen wählen außerdem ihr Abgeordnetenhaus und die Bezirksverordnetenversammlung. In Mecklenburg-Vorpommern und Thüringen sind am gleichen Tag Landtagswahlen.

Es gibt also viele Anlässe für Politikerinnen und Politiker, um die Gunst der Wählerschaft zu werben. Obwohl der Wahlkampf in diesem Jahr pandemiebedingt tüchtig auf den Kopf gestellt werden dürfte. Kontaktverbote und Abstandsregeln bewirken eine Verlagerung ins Digitale. Aktive Politikerinnen und Politiker sind derzeit als Krisenmanager*innen einem dauernden Stresstest ausgesetzt – und das im Rampenlicht. Währenddessen buhlen rechte Agitator*innen um Menschen, die mit den Anti-Corona-Maßnahmen der Politik unzufrieden sind. Außerdem wird es nach vier Legislaturperioden erstmals einen neuen Bundeskanzler oder eine neue Bundeskanzlerin geben. Das heißt also: Das Wahljahr 2021 birgt eine Reihe von Besonderheiten und Herausforderungen, die es in der Geschichte unserer Demokratie zu einem Wegweisenden machen. Uns ist das eine eigene Wahl-Serie im Blog der Nemetschek Stiftung wert – mit Interviews und Berichten zu vielen Facetten im Superwahljahr 2021.

Blicken die Menschen bei ihrer Wahlentscheidung eher zurück – d. h. zählt am Wahltag beispielsweise noch die Performance der Kandidaten im Umgang mit der Corona-Krise oder dem Wirecard-Skandal – oder nach vorne, d. h. in Erwartung zukünftiger Entscheidungen?

Prof. Dr. Ursula Münch

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In der Wahlforschung stellen wir fest, dass Wahlen – mehr als das früher der Fall war – auch Personalentscheidungen sind. Was wir wissen, ist, dass wir inzwischen einen kleineren Anteil von Stammwählerinnen und Stammwählern haben. Der Anteil der Wechselwähler ist größer geworden. Diese Wechselwähler lassen sich stärker von Situationen wie der Corona-Krise und auch von Personen und deren Sympathiewerten beeinflussen. Wählerinnen und Wähler sind auch eher bereit, mal etwas Neues auszuprobieren, selbst bei einer Bundestagswahl. Die Wahlentscheidung richtet sich auch nach Parteiprogrammen. Aber was ist ausschlaggebend? Ist das eher die die Kompetenz in der Klimapolitik? Oder ist es eher die Kompetenz in der wirtschafts- und finanzpolitischen Bewältigung der Corona-Pandemie? Das lässt sich seriös nicht sagen. Ich gehe mal davon aus, es wird eine Mischung von beidem sein. Es wird auch abhängig sein, welcher Generation die Wählerinnen und Wähler angehören. Ganz sicher bin ich, dass die jetzt Regierungsverantwortlichen stark daran gemessen werden, wie es mit der Bewältigung der Corona-Pandemie vorangeht. Aber da schaut es ja insgesamt ganz gut aus. Und natürlich spielt der Blick nach vorne eine Rolle, sowohl mit Blick auf Klimapolitik als auch mit Blick auf Wirtschafts- und Finanzpolitik.

Die Wahl wird nicht von meinen Kindern und deren Generation entschieden, sondern von den Älteren.Bild eines Anführungszeichens

Prof. Dr. Ursula Münch

Leiterin der Akademie für politische Bildung Tutzing

Sehen Sie vor der kommenden Bundestagswahl eine Wechselstimmung, vielleicht auch eine Proteststimmung gegen die aktuell politisch Handelnden während der Corona-Pandemie? Die ist derzeit sehr präsent in der Berichterstattung.

Prof. Dr. Ursula Münch

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Ja, könnte man annehmen. Frau Baerbock und Herr Habeck inszenieren das natürlich auch so, dass sie versuchen, mangelnde Regierungserfahrung und -verantwortung in einen Vorteil umzuwandeln. Was gegen die These von der Proteststimmung spricht, ist, dass die deutsche Wählerschaft im Großen und Ganzen vor allem bei einer Wahl, die man für die wichtigste hält, immer eher sicherheitsorientiert abstimmt. Die Deutschen sind ungeachtet gelegentlicher Wahlerfolge der Grünen, der SPD und natürlich auch der Linken eher sicherheitsorientiert und in einer gewissen Weise auch konservativ in ihrer Mehrheit. Das erklärt ja auch diese großen Wahlerfolge der Unionsparteien über viele Jahrzehnte hinweg. Ich gehe davon aus, dass je näher der Wahltermin rückt, eine gewisse Neigung dazu einsetzt, auf das Bewährte zu setzen. Aber diese Neigung wird in diesem Jahr nicht so ausgeprägt sein, weil keinem Kandidaten, keiner Kandidatin allzu viele Vorschusslorbeeren eingeräumt werden.

Politisches Establishment, langjährige Koalitionäre und männlich auf der einen Seite gegen frisch, zeitgeistig und weiblich auf der anderen. Würden Sie sagen, das ist ein Gegensatzpaar, um das es bei dieser Wahl geht?

Prof. Dr. Ursula Münch

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Es wird so dargestellt werden und die jeweiligen Agenturen, die Parteisekretäre, die Funktionäre, die jeweiligen Häuser werden es genau darauf hin ausrichten. Aber man kann als Wählerin oder als Wähler Frau Baerbock für anregend und frisch halten und sich für einen Wechsel aussprechen, aber auch gleichzeitig sagen, naja, ich denke aber schon auch an meinen Geldbeutel, ich denke an die Steuern, ich denke an internationale Politik, ich denke an Verhandlungen auf internationalem Parkett – und dann ist man auf einmal wieder in einem anderen Modus. Deshalb sind Wahlentscheidungen wesentlich differenzierter. Wie viele sachliche Fehler macht Frau Baerbock noch? Ich meine, wenn sie beispielsweise nicht weiß, was die soziale Marktwirtschaft ist, und den Begriff falsch einordnet. Das war ein kleiner Fehler, Herr Habeck hat größere gemacht. Auch Herr Laschet macht laufend Fehler. Herr Scholz muss sich mit Affären auseinandersetzen. Insofern weiß ich nicht, in welche Fallen die Kandidaten in den nächsten vier Monaten jeweils tappen. Aber gerade die Älteren, meine Generation, wir entscheiden die Wahl. Die Wahl wird nicht von meinen Kindern und deren Generation entschieden.

Es gibt einige Beispiele für politische Seiteneinsteigerinnen und Seiteneinsteiger weltweit, europaweit oder auch Amtsträger, die ohne konkrete Regierungserfahrung ins Amt gekommen sind. Wie wichtig ist Erfahrung für das Kanzleramt?

Prof. Dr. Ursula Münch

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Von Nutzen ist es sicher, wenn man exekutive Erfahrung hat. Wenn man also Erfahrung hat mit Prozessen in der Verwaltung, in den Ministerien und auch im Bund-Länder-Verhältnis. Was ist eigentlich machbar? Wo sind Widerstände? Wie muss man denken, um aus einer Idee tatsächlich eine Maßnahme zu machen? Aber gleichzeitig muss man sagen, wichtig ist natürlich vor allem die politische Erfahrung. Und dazu gehört natürlich parlamentarische Erfahrung. Die kann einiges ausgleichen. Keiner der Kandidaten ist hier unbedarft. Alle haben vielfältige politische Erfahrung gesammelt. Wenn also die Kanzlerkandidatin der Grünen tatsächlich ins Bundeskanzleramt einziehen würde, könnte sie auch auf ihre parlamentarische Erfahrung bauen. Was aber dann besonders wichtig wäre: Sie müsste das Kanzleramt mit der oder dem richtigen Kanzleramtsminister besetzen. Das ist eine ganz zentrale Position, egal wer Bundeskanzler oder Bundeskanzlerin ist. Da braucht es jemanden mit viel Verwaltungserfahrung, viel politischem Gespür, viel Kenntnis des deutschen Föderalismus. Die Besetzung dieser Position kann mangelnde Erfahrung als Kanzler oder Kanzlerin durchaus ausgleichen.

Wenn wir einen guten Kanzler oder eine gute Kanzlerin haben, darf die meines Erachtens auch länger im Amt sein.Bild eines Anführungszeichens

Prof. Dr. Ursula Münch

Leiterin der Akademie für politische Bildung Tutzing

Was halten Sie von einer Begrenzung der Amtszeit für Bundeskanzler*innen?

Prof. Dr. Ursula Münch

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Ich bin komplett gegen eine Begrenzung der Amtszeit, weil das nicht zu unserem Regierungssystem passt. Wir sind kein präsidentielles Regierungssystem wie die USA. Ich finde, eine Begrenzung tut einer parlamentarischen Demokratie nicht gut. Bei uns ergibt sich die Begrenzung durch unsere Entscheidungen. Die Wählerinnen und Wähler entscheiden über die Begrenzung der Amtszeit, und ich möchte nicht, dass das den Wählerinnen und Wählern abgenommen wird. Wenn wir einen guten Kanzler oder eine gute Kanzlerin haben, darf die meines Erachtens auch länger im Amt sein. Die CDU/CSU hat 1998 die Erfahrung gemacht, was passiert, wenn einer nicht loslassen kann. Ich finde, das soll man nicht festlegen, weil wir dann das erleben würden, was die Amerikaner als lame duck bezeichnen, die lahme Ente. Die muss sich nicht mehr bewähren, er oder sie muss nicht mehr dieses Gespür beweisen. Auch nicht in die eigene Partei hinein. Deshalb: Ich bin dagegen.
Portrait Prof. Dr. Ursula Münch
Wahlen sind heute stärker als früher Personalentscheidungen, sagt Prof. Dr. Ursula Münch von der Akademie für politische Bildung Tutzing. | © Akademie für Politische Bildung Tutzing

Über Prof. Dr. Ursula Münch

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Ursula Münch ist seit 1999 Professorin für Politikwissenschaft unter besonderer Berücksichtigung der Innenpolitik und der Vergleichenden Regierungslehre. Seit 2011 leitet sie die Akademie für Politische Bildung in Tutzing.