6. September 2021

Warum Wahlprogramme keinen Spaß machen müssen

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Sie werden immer länger, bestehen oft aus Worthülsen und verbindlich sind sie auch nicht. Dennoch bieten Wahlprogramme eine wichtige Orientierungshilfe, sagt der Medienethiker Prof. Christian Schicha im Interview.

Wer soll rein? Vor der Bundestagswahl kann ein Blick in die Programme der Parteien die Wahlentscheidung erleichtern. | © shutterstock/Mimafoto

Prof. Schicha, wie viele Wahlprogramme haben Sie in diesem Jahr schon gelesen?

Prof. Christian Schicha:

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Ich muss einräumen, ich habe nicht alle komplett gelesen, sondern mich auf die Kurzfassungen konzentriert und auf die Berichterstattung. Gerade die Kommentierungen finde ich sehr spannend, von den klassischen Tageszeitungen bis hin zu Youtuber*innen, die das Ganze beschreiben und einordnen. Aber ich habe mich über die Wahlprogramme aller im Bundestag vertretenen Parteien informiert.

Welche Erkenntnisse haben Sie gewonnen?

Prof. Christian Schicha:

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Richtig erhellend war das nicht. Das liegt aber auch in der Natur der Sache.  Ein Wahlprogramm ist eine Form von Eigen-PR der Parteien. Es ist noch kein Koalitionsvertrag und kein Regierungsprogramm, sondern es geht in erster Linie darum, dass die Parteien in der Lage sind, ihre eigenen Schwerpunkte zu artikulieren und Werbung dafür zu machen. Auch in diesem Jahr sind alle Wahlprogramme eher unverbindlich gehalten. Zahlen, Daten, Fakten tauchen nicht so häufig aus.

Grundsätzlich freue ich mich über jeden Bericht – egal wo und in welcher Form – zu den Programmen, den Parteien und ihren Themen.Bild eines Anführungszeichens

Prof. Christian Schicha

Medienethiker

Wofür braucht man sie dann eigentlich?

Prof. Christian Schicha:

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Wahlprogramme dienen durchaus der Orientierung. Für die Wahlkämpfer*innen ebenso wie für interessierte Bürger*innen, eben weil sie die politischen Schwerpunkte einer Partie deutlich machen.

Also als Grundlage für die eigene Wahlentscheidung vielleicht nicht ausschlaggebend aber durchaus nützlich?

Prof. Christian Schicha:

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Ich denke schon. Wobei sich tatsächlich die Frage stellt, wer sich das von vorne bis hinten anschaut. Hilfreich sind sicher die Kurzfassungen, die viele Parteien inzwischen von ihren Programmen anfertigen und die etwa auf sieben oder 15 Seiten die wichtigsten Themen zusammenfassen. Die werden auch an den Wahlkampfständen vor Ort verteilt. Dort bekommen sie ja in der Regel nicht die vollständigen, manchmal 200 Seiten dicken Wälzer.
Prof. Christian Schicha sieht Wahlprogramme als wichtige Orientierungshilfe an. | © privat

Über Prof. Christian Schicha

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Prof. Christian Schicha hat die Professur für Medienethik am Institut für Theater- und Medienwissenschaften der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg inne. Der Kommunikationswissenschaftler hat sich insbesondere auf die Analyse von Wahlwerbung spezialisiert. Als Gast wird er beim Projekt „Lost in Wahlkabine“ der Nemetschek Stiftung am 12. September in Nürnberg die Wahlprogramme der Parteien kommentieren und analysieren.

Sind die Wahlprogramme in der Langform überhaupt noch zeitgemäß?

Prof. Christian Schicha:

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Ich finde es schon gut, dass es die gibt. Ob sie in Massen verteilt werden sollten wie die Telefonbücher – die ja stapelweise heute auch immer liegen bleiben – ist schon ökologisch mehr als fragwürdig. Aber Wahlprogramme sind meiner Ansicht nach wichtig, um die Arbeit der Parteien zu dokumentieren. Und auch wenn die wenigsten alles lesen, kann sich jeder das für ihn Relevante nochmal ganz genau anschauen. Also wer sich für Menschenrechte engagiert, schaut: Was haben die dazu geschrieben. Oder: Was planen die Parteien eigentlich im Einzelnen zum Klimaschutz? Und dann denke ich, dass die Programme auch durchaus bei einer Wahlentscheidung helfen können. Deshalb sollte alles, was da ist, was an Haltung in der Partei erarbeitet wurde, auch zugänglich sein. Und das leisten die Wahlprogramme.

Und mal als Lektüre betrachtet: Hatten Sie Spaß beim Lesen, mussten Sie mal schmunzeln?

Prof. Christian Schicha:

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Eher nicht. Die Wahlprogramme werden auch immer länger, sind in der Regel eher sperrig und schwer zu lesen. Die Universität Hohenheim hat das untersucht:  Bei der ersten Bundestagswahl 1949 bestanden die Programme im Schnitt aus rund 5.500 Wörtern. Heute sind es über 43.500 Wörter pro Programm. Wobei es große Unterschiede bei den Parteien gibt, in der Länge und im Stil. Die SPD etwa hat ein recht kurzes Programm, es ist etwas peppiger als die anderen, optisch und sprachlich moderner. Die Grünen stellen dauernd ihr „wir“ in den Vordergrund: „Wir schaffen klimagerechten Wohlstand“, „Wir bringen die Digitalisierung voran.“ Die AfD formuliert relativ konventionell und altmodisch. Die CDU hat im Prinzip Schlagworte aneinandergereiht, das ist eher kein Hochgenuss. Die Linke unterscheidet sich auch nicht maßgeblich von den anderen Parteien. Also, unterm Strich, die Wahlprogramme machen eher weniger Spaß, aber bieten eine gewisse Orientierung. Und das tun sie auch alle.

Unterm Strich machen die Wahlprogramme eher weniger Spaß, aber bieten eine gewisse Orientierung. Und das tun sie auch alle.Bild eines Anführungszeichens

Prof. Christian Schicha

Medienethiker

Wie zufrieden sind Sie mit der Berichterstattung über die Programme?

Prof. Christian Schicha:

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Da gibt es natürlich große Unterschiede: Ein Youtuber berichtet anders als ein Hintergrundbericht in der FAZ. Das halte ich aber für völlig legitim und angemessen. Es ist sogar ein Vorteil, dass es so viele Informationsangebote gibt, weil so die unterschiedlichen Zielgruppen erreicht werden. Natürlich wird auch mal etwas verdreht, der politische Gegner versucht zu instrumentalisieren. Aber es gibt ja auch immer die Faktenchecks. Das haben wir beim Triell gesehen, der TV-Diskussion der Kanzlerkandidaten und der Kandidatin auf RTL. Da gab es eben auch gleich am nächsten Tag in anderen Medien einen Faktencheck der verschiedenen Aussagen. Grundsätzlich freue ich mich über jeden Bericht – egal wo und in welcher Form – zu den Programmen, den Parteien und ihren Themen.

Wie lautet Ihr liebster Satz aus einem Wahlprogramm?

Prof. Christian Schicha:

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Da gibt es gleich mehrere. Aber einen aus dem AfD-Programm möchte ich hervorheben. Nicht weil ich ihn toll finde, sondern weil er so vollkommen lächerlich und absurd ist. Es geht um das Thema Kindebetreuung und dort steht: Politische Ideologien, wie z. B. Genderwahn und Klimahysterie, werden den Kindern heute schon im Vorschulalter nähergebracht.

Was genau stört Sie?

Prof. Christian Schicha:

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Der Satz geht an allen Debatten vorbei. Dass es einen Klimawandel gibt, bestätigen 99 Prozent aller Wissenschaftler*innen. Dass deshalb etwas unternommen werden muss, ist Konsens. Die Gleichberechtigung von Mann und Frau nimmt einen hohen Stellenwert in unserer Gesellschaft ein und ist auch im Grundgesetz verankert. Die Legitimität einer Sprache, die alle Geschlechter einbezieht, ist schon deshalb legitim. Die AfD versucht krampfhaft als fundamentale Oppositionspartei einen Gegenentwurf vorzulegen. Das macht sie sehr undifferenziert und polemisch. So ein Satz gehört eigentlich gar nicht in ein Wahlprogramm, sondern in eine agitatorische Rede. Im Wahlprogramm sollten ja eigene Vorschläge stehen. Stattdessen kommt vor dem zitierten Satz noch eine Keule – das Dritte Reich und die DDR werden herangezogen. Für mich ist der ganze Absatz absurd und falsch.

Lost in Wahlkabine?

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Lust auf mehr Wahlprogramm? Kein Problem. Beim Projekt „Lost in Wahlkabine?“ der Nemetschek Stiftung packen Schauspieler*innen ihre schönste Lesestimme aus und zitieren aus den Wahlprogrammen zur Bundestagswahl. Expert*innen kommentieren und analysieren das Vorgelesene. Besuchen Sie uns in Nürnberg oder München!

12. September 2021, 11.30 Uhr, Eintritt frei, aber Anmeldung erforderlich
Ort: Museum für Kommunikation Nürnberg
Schauspieler*innen: Pauline Kästner, Yascha Finn Nolting
Gäste: Prof. Christian Schicha, Medienethiker, Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg; Kurt Heidingsfelder, Redakteur der Nürnberger Nachrichten
Moderation: Silke Zimmermann, Programmleiterin der Nemetschek Stiftung

13. September 2021, 19 Uhr, Eintritt frei, keine Anmeldung erforderlich
Ort: Bahnwärter Thiel, München
Schauspieler*innen: Henriette Nagel, Lukas Darnstädt
Gäste: Prof. Ursula Münch, Politikwissenschaftlerin und Direktorin der Akademie für Politische Bildung Tutzing; Martin Fuchs, Politikberater und Blogger; Christian Orth, Reporter und Moderator des Bayerischen Rundfunks
Moderation: Silke Zimmermann, Programmleiterin der Nemetschek Stiftung

Superwahljahr 2021

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Bei einer demokratischen Wahl können Bürgerinnen und Bürger Einfluss auf die Geschicke ihres Landes nehmen. 2021 gibt es dazu reichlich Gelegenheit: In der ersten Jahreshälfte waren Landtagswahlen in Baden-Württemberg, Rheinland-Pfalz und Sachsen-Anhalt sowie Kommunalwahlen in Hessen.  Am 12. September stehen die Kommunalwahlen in Niedersachsen an. Der 26. September ist der Tag der Bundestagswahl, Berliner*innen wählen außerdem ihr Abgeordnetenhaus und die Bezirksverordnetenversammlung. In Mecklenburg-Vorpommern und Thüringen sind am gleichen Tag Landtagswahlen.

Es gibt also viele Anlässe für Politikerinnen und Politiker, um die Gunst der Wählerschaft zu werben. Obwohl der Wahlkampf in diesem Jahr pandemiebedingt tüchtig auf den Kopf gestellt werden dürfte. Kontaktverbote und Abstandsregeln haben eine Verlagerung ins Digitale bewirkt. Aktive Politikerinnen und Politiker sind als Krisenmanager*innen einem dauernden Stresstest ausgesetzt – und das im Rampenlicht. Währenddessen buhlen rechte Agitator*innen um Menschen, die mit den Anti-Corona-Maßnahmen der Politik unzufrieden sind. Außerdem wird es nach vier Legislaturperioden erstmals einen neuen Bundeskanzler oder eine neue Bundeskanzlerin geben. Das heißt also: Das Wahljahr 2021 birgt eine Reihe von Besonderheiten und Herausforderungen, die es in der Geschichte unserer Demokratie zu einem Wegweisenden machen. Uns ist das eine eigene Wahl-Serie im Blog der Nemetschek Stiftung wert – mit Interviews und Berichten zu vielen Facetten im Superwahljahr 2021.