Prof. Hartlapp, die Ratspräsidentschaft wird turnusmäßig für sechs Monate unter den EU-Mitgliedstaaten vergeben. Was kann ein Staat in dieser Position bewirken?
Prof. Miriam Hartlapp
- Es organisiert und leitet die Ratssitzungen und die damit im Zusammenhang stehenden Treffen – das sind sehr viele, rund 1.500 während einer Ratspräsidentschaft.
- Es vertritt den Rat gegenüber anderen EU-Institutionen. Das ist vor allem für die Gesetzgebungsprozesse wichtig, also wenn es darum geht, auf europäischer Ebene Richtlinien und Verordnungen zu verabschieden.
- Außerdem kann die Ratspräsidentschaft die EU auch in bestimmten Bereichen der Außenpolitik vertreten.
Daraus ergibt sich, dass eine Ratspräsidentschaft Initiativen voranbringen kann. Vor allem im Gesetzgebungsprozess kann sie Kompromisse aushandeln oder neue Themen benennen, die dann auf die Agenda für folgende Ratspräsidentschaften gesetzt werden. Es gibt also auch eine Langzeitwirkung. Die wird noch unterstützt durch ein besonderes Merkmal der EU – das Prinzip der Dreier-Ratspräsidentschaften: Nach Deutschland haben Portugal und dann Slowenien die Ratspräsidentschaft inne und gemeinsam bilden sie ein Trio, das auch ein gemeinsames Motto hat: „A stronger, fairer and more sustainable Europe“. Diese Länder sprechen sich auch darüber ab, welche Themen sie gemeinsam vorantragen wollen.
Gibt es denn Beispiele aus der Vergangenheit, wie so eine Themensetzung langfristig Wirkung zeigt?
Prof. Miriam Hartlapp
Also hat ein Staat während der Ratspräsidentschaft durchaus Einfluss?
Prof. Miriam Hartlapp
Inzwischen gibt es ein starkes Bewusstsein für die gegenseitigen Abhängigkeiten innerhalb der europäischen Gemeinschaft.
Prof. Miriam Hartlapp
Politikwissenschaftlerin
Die Bundesregierung hatte wichtige Themen wie Flucht und Migration, Rechtsstaatlichkeit und Klimapolitik auf ihrer Agenda. Drohen diese Themen neben der Bewältigung der Corona-Pandemie unterzugehen?
Prof. Miriam Hartlapp
Aber das macht natürlich auch Sinn. Die Pandemie ist da, wir befinden uns in einer großen Krise und darauf müssen politische Antworten gefunden werden. Insofern ist es auch eine Chance, dass gerade jetzt ein großes Land die Ratspräsidentschaft innehat, mit einer Regierung, die eine große und sehr effiziente Ministerialbürokratie hinter sich hat.
Also ein Glücksfall für die EU?
Prof. Miriam Hartlapp
Woran würden Sie das festmachen?
Prof. Miriam Hartlapp
Zum Beispiel?
Prof. Miriam Hartlapp
An welchen Themen muss sich Deutschland am Ende der sechs Monate noch messen lassen?
Prof. Miriam Hartlapp
Ein sehr zentrales Thema ist außerdem die Asylpolitik mit der Reform des Dubliner Abkommens. Wenn man da weiterkäme, wäre das ein Erfolg. Denn die Situation ist sehr festgefahren. Es geht um eine Neuverteilung der Lasten zwischen den Mitgliedstaaten: unter anderem um die Aufnahme Geflüchteter und die Frage, ob über Asylanträge weiterhin primär in den Erstaufnahmeländern entschieden werden soll. Die Mittelmeer-Anrainer und die osteuropäischen Staaten beklagen sich zu Recht, die Regeln sind im Moment ungerecht.
Das zu lösen scheint eine sehr große Aufgabe für sechs Monate.
Prof. Miriam Hartlapp
Angesichts von Streit um Corona-Hilfen: Wie steht es aus Ihrer Sicht um die innereuropäische Solidarität?
Prof. Miriam Hartlapp
Wenn man sich dann aber das von der EU verabschiedete Maßnahmenbündel genau anschaut, speziell die Initiativen im Gesundheitsbereich und den „Recovery-Fund“ (Wiederaufbaufonds), dann kann man sagen, dass das schon eine solidarische Antwort auf die Krise ist. Sie ist vor allem solidarischer als es die Handlungen der EU in der Finanz- und der Migrationskrise waren.
Sehr wahrscheinlich wird die Corona-Pandemie die Ungleichheit bei Lebensstandards sowie die Arbeitslosigkeit verstärken, was Effekte auf die Stabilität unserer Demokratien haben kann.
Prof. Miriam Hartlapp
Politikwissenschaftlerin
Was hat die größere Solidarität ausgelöst?
Prof. Miriam Hartlapp
Inzwischen gibt es ein starkes Bewusstsein für die gegenseitigen Abhängigkeiten innerhalb der europäischen Gemeinschaft. Und gerade Deutschland profitiert ungeheuer vom wirtschaftlichen Austausch im EU-Binnenmarkt. Die Konsequenzen, als dieser Markt eingebrochen ist, haben wir gerade nur zu deutlich gespürt.
Staaten wie Ungarn oder Polen haben während der Corona-Pandemie demokratische Prinzipien weiter ausgehebelt. Birgt die EU-Ratspräsidentschaft Möglichkeiten, dem entgegenzuwirken?
Prof. Miriam Hartlapp
Ein verwandtes Thema, das in den letzten Wochen und Monaten sehr stark und kontrovers diskutiert wurde, ist die ‚rule of law‘-Konditionalität. Damit ist gemeint, dass die Vergabe von Mitteln aus dem Strukturfonds und anderen Ausgabeinstrumenten der EU an die Einhaltung gemeinschaftlicher Werte und Prinzipien zur Rechtsstaatlichkeit geknüpft ist. Neu ist, dass über die Vergabe der Mittel dann mit qualifizierter Mehrheit entschieden werden kann. Es genügen also 55 Prozent der Mitgliedstaaten und 65 Prozent der EU-Bevölkerung, um die Nichtbefolgung rechtsstaatlicher Prinzipien finanziell zu sanktionieren. Das könnte bei der Umsetzung dieser Prinzipien den entscheidenden Unterschied machen.
Gibt es also Grund zur Zuversicht, dass Demokratie und Zusammenhalt in der EU weiter gestärkt werden können?
Prof. Miriam Hartlapp
Über Prof. Miriam Hartlapp
Prof. Miriam Hartlapp ist Politikwissenschaftlerin und lehrt am Otto-Suhr-Institut der Freien Universität Berlin. Sie beschäftigt sich mit Fragen von Macht und Konflikt im EU-Mehrebenensystem, und interessiert sich für die Schnittstelle von Wirtschafts- und Sozialintegration in der Europäischen Union.