17. September 2021

Kampnagel Sommerfestival: Kunst und Politik auf einer Wiese

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Was haben KI oder Klimawandel mit Kunst zu tun? Jede Menge, sagen die Macher*innen des Internationalen Sommerfestivals Kampnagel in Hamburg. Kuratorin Lena Kollender spricht im Interview über politische Haltung und neue Blickwinkel.

Volle Bühne beim Abschlusspanel der Festival-Konferenz „The Future of Code Politics” | © Kampnagel

Frau Kollender, wie erleichtert waren Sie am 4. August, als das diesjährige Internationale Sommerfestival starten konnte?

Lena Kollender

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Den Gedanken, dass es nicht klappen könnte, habe ich mir gar nicht mehr erlaubt. Dann hätte ich die nötige Energie nicht aufbringen können. Natürlich waren es besondere Umstände, wir haben 2020 auch schon eine Pandemieversion des Festivals umgesetzt. Und dieses Jahr haben wir uns gesagt: Wir kriegen das wieder hin, egal wie. Wir haben uns einfach sehr auf das Festival gefreut und uns auf alle möglichen Szenarien vorbereitet. Toll war dann natürlich, dass wieder Live-Veranstaltungen möglich waren und sogar einige internationale Reisen.

Von Musiker*innen ist bekannt, dass einige frustriert sind über Auftritte mit Abstand und ohne die gewohnte Konzertstimmung. Gab es beim Sommerfestival auch solche Momente oder überwog die Erleichterung, zusammentreffen, sich austauschen, Kunst machen und sehen zu können?

Lena Kollender

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Bei uns hat die Erleichterung überwogen, dass es so stattfinden konnte, wie wir uns das gewünscht hatten und ich denke, dem Team ging es auch so.  Beim Publikum haben wir eine große Lust und Freude bemerkt, hierherzukommen: Unsere Veranstaltungen waren zu 95 Prozent ausverkauft. Ich denke, unser großes Außengelände war ein echter Vorteil. Wir hatten Angebote in Innenräumen aber eben auch sehr viel Platz draußen und so konnte jede*r das Festival so besuchen, wie es sich für ihn oder sie richtig angefühlt hat.

Unseren Künstler*innen hat man angemerkt, dass sie sich auf die Situation gut eingestellt haben, viele haben direkt für die besondere Situation produziert, nicht für die üblichen vollen Hallen. Zum Beispiel ist die Künstlerin Feist bei uns aufgetreten, die ihre Auftritte normalerweise vor 5.000 Leuten absolviert. Sie hat die pandemiebedingten Einschränkungen eher als Möglichkeit aufgenommen, ein intimes inszeniertes Konzert zu geben, und die Bühne zusammen mit 200 Leuten zurückzuerobern. Und wir haben das ermöglicht, indem sie bei uns proben konnte und wir dann mehrere Vorstellungstermine angesetzt haben. Wie Feist haben viele unserer Künstler*innen wirklich das Positive aus der Situation gezogen. Ich denke, bei allen haben die Erleichterung und der Spaß daran, wieder auftreten zu können, die meisten Nachteile überwogen. Das war schön zu beobachten.

Wenn man einer Künstlerin gegenübersitzt, die im Amazonasgebiet arbeitet, bekommt das Thema Klimawandel quasi von selbst eine gewisse Dringlichkeit. Bild eines Anführungszeichens

Lena Kollender

Kuratorin und Dramaturgin

Das Kampnagel-Gelände in Hamburg-Winterhude ist seit den 80er Jahren Veranstaltungsort für zeitgenössische Kunst. Was ist das Markenzeichen des Sommerfestivals?

Lena Kollender

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Das Kampnagel-Gelände war der Standort einer Fabrik und stand lange leer, bis er in den 1980er Jahren als Zwischenspielstätte für das Deutsche Schauspielhaus genutzt wurde. Der Ort kam so gut an, dass Künstler*innen und Techniker*innen entschieden zu bleiben und dann auch 1984 das erste Sommerfestival organisierten, das vor allem draußen stattfand. Das hat sich dann relativ schnell etabliert. Und auch wenn der Name sich zwischendurch leicht änderte, von Sommertheater zu Sommerfestival, gibt es einige Kontinuitäten: Wir bespielen ja immer noch einen großen Garten und inzwischen auch alle Hallen der alten Kampnagel-Fabrik mit immerhin sechs Bühnen. Das alles im Sommer, wenn die meisten anderen Theater geschlossen haben. Und so ist eines unserer Markenzeichen eigentlich, dass wir ein sehr heterogenes Publikum anziehen:  von der bürgerlichen Frau, die vielleicht ein Abo der Staatsoper hat, bis zur jungen Aktivistin, die sonst eher im Hamburger Subkulturkontext unterwegs ist. Das ist auch unser Ziel: eine radikalere künstlerische Sprache einem breiten Publikum zugänglich zu machen. Wir wollen die Leute animieren, sich mal etwas zuzutrauen und sich auch Kunstprojekte anzuschauen, die sonst nicht auf ihrer Agenda stehen. Es geht um eine Verschränkung von Popkultur und Avantgarde.

Zum Festival gehört auch immer eine politische Diskursreihe, in diesem Jahr trug sie den Titel „The Future of Code Politics“, es ging um Künstliche Intelligenz, Codes und Algorithmen. Wie sind Sie darauf gekommen?

Lena Kollender

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In der Diskursreihe beschäftigen wir uns jedes Jahr mit einem gesellschaftlichen Thema, das gerade den öffentlichen Diskurs prägt und das wir aus einer anderen Perspektive betrachten wollen. Das Thema rund um KI finde ich schon lange total relevant und man begegnet ihm ständig, ob es um Polizeiarbeit, Gesichtserkennung oder Grenzkontrollen geht. Ich habe aber vieles dabei nicht verstanden und konnte überhaupt nicht mitreden. So ist ganz ursprünglich die Idee entstanden, eine Veranstaltung zu machen für Leute, denen es ähnlich geht, die nicht aus der technologischen Blase kommen, aber ein politisches Bewusstsein haben und auch mitreden wollen.
Verschränkt beim Internationalen Sommerfestival Kampnagel Avantgarde mit Popkultur: Kuratorin und Dramaturgin Lena Kollender. | © Florian Sonntag

Über das Internationale Sommerfestival

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Lena Kollender ist Kuratorin und Dramaturgin des Internationalen Sommerfestivals des Produktionshauses Kampnagel in Hamburg. Das Festival findet seit 1984 statt und hatte 2019 etwa 35.000 Besucher*innen. Coronabedingt hat Kampnagel das Festivalangebot in den Jahren 2020 und 2021 angepasst, in diesem Jahr fand etwa. die Festival-Konferenz hybrid statt. Ein paar Zahlen aus 2021: 28.000 Besucher*innen kamen auf das Kampnagel-Gelände oder in eine der innerstädtischen Spielstätten. Das Festival bot 14 Theaterproduktionen in den Hallen und zehn Projekte in der Stadt. 50 Konzerte und Lesungen haben im Garten stattgefunden. Insgesamt waren 74 Künstler*innen oder Gruppen beteiligt.

Sie hatten viele internationale Gäste dazu.

Lena Kollender

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Ja, denn noch in der Planungsphase ist uns aufgefallen, dass die Menschen, die in Europa normalerweise zu dem Thema sprechen, häufig aus der gleichen Ecke kommen. Oder andersrum gesagt: Man hört hier seltener die Perspektiven von z.B. Schwarzen Frauen oder Menschen aus dem globalen Süden dazu. Dort gibt es aber viele kompetente Leute, die auf hohem Niveau an sehr relevanten Fragen arbeiten.

Und denen haben Sie eine Bühne geboten?

Lena Kollender

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Genau. Wir haben das Programm in enger Zusammenarbeit entwickelt mit Indigenous AI, die indigene Perspektiven auf KI werfen, und Coding Rights & Musea M.A.M.I. aus Brasilien. Und unsere Starspeaker*innen, wie etwa die Informatikerin und Ethikerin Dr. Timnit Gebru, die eine Führungsposition bei Google hatte, oder die ugandische Klimaaktivistin Vanessa Nakate, nehmen innerhalb der Tech-Diskurse zu oft leider noch eine Sonderrolle ein.

Inwiefern ist die Verknüpfung von Kunst und Politik bedeutsam für das Festival?

Lena Kollender

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Ich denke, eine große Kulturinstitution wie Kampnagel kommt um eine politische Haltung gar nicht herum. Denn gute Künstler*innen reagieren einfach immer auf die Umwelt. Sie sind selten in einer abgeschiedenen Welt zuhause, wo es keine Einflüsse von außen gibt, sondern setzen sich mit der Gegenwart auseinander. Und das hat immer politische Aspekte. Damit meine ich nicht die Tagespolitik, sondern politische Strukturen oder Fragestellungen, die das eigene politisches Bewusstsein beeinflussen. Und wir speziell haben uns entschieden, ein Festival zu machen, das radikal in der Gegenwart verortet ist, da passiert diese Auseinandersetzung ja schon fast automatisch. Auch weil wir mit internationalen Künstler*innen zusammenarbeiten. Wenn man einer Künstlerin gegenübersitzt, die im Amazonasgebiet arbeitet, bekommt das Thema Klimawandel quasi von selbst eine gewisse Dringlichkeit.

Was für Pläne haben Sie für das Festival im kommenden Jahr, können Sie schon etwas verraten?

Lena Kollender

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Wir haben sehr viele Pläne. Aber ich sag mal so, letztes Jahr um diese Zeit hatten wir auch ganz viele Pläne, manches haben wir realisiert, anderes hat sich als nicht machbar rausgestellt oder wurde von uns verworfen. Was ich schon sagen kann: Wir möchten die Auseinandersetzungen, die wir mit „The Future of Code Politics“ begonnen haben, gerne fortsetzen. Wie genau das aussehen wird, steht allerdings noch in den Sternen.  Außerdem hoffen wir, dass wir endlich eine Theaterproduktion umsetzen können, die wegen Corona schon zweimal verschoben wurde: eine indigene Tanzcompany aus Australien, die das Thema Exil bearbeitet. Es wird also auf jeden Fall wieder spannend!