24. August 2021

Wahlkampf am Scheideweg

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Nach 16 Jahren Merkel steht mit der Bundestagswahl viel auf dem Spiel im politischen Berlin. Der Politikberater und Blogger Martin Fuchs nennt es eine „historische Sollbruchstelle“. Ein Interview über Patzer, Scheindebatten und Solidarität.

Alles auf Anfang: Nach der Bundestagswahl wird sich vieles ändern in der deutschen Politik. | © Getty Images/New Start Sign

Herr Fuchs, auf einer Skala von 1 bis 10, wie spannend finden Sie den Bundestagswahlkampf bisher?

Martin Fuchs

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Extrem ermüdend, aber auch sehr spannungsgeladen. Ich gebe 9 von 10.

Was ist so ermüdend?

Martin Fuchs

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Die täglichen Scheindebatten, Debatten über unwichtige Themen, das Klein-Klein, das nicht Vorhandensein eines inhaltlichen Austausches über große Fragen, die Deutschland jetzt beschäftigen sollten. Und natürlich auch die unter die Gürtellinie gehenden Angriffe auf das politische Spitzenpersonal wie beispielsweise der Versuch von externer Seite, mit der „Grüner-Mist-Kampagne“ Einfluss auf die Wahl zu nehmen.

Das sind alles so Sachen, die eher die Schattenseiten eines Wahlkampfes zeigen.

Ist das beispiellos oder würden Sie sagen, das gab es früher schon mal so ähnlich?

Martin Fuchs

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Die Wahlkämpfe der 70er und 80er Jahren waren auch harte Wahlkämpfe, Franz Josef Strauß oder Willy Brandt wurden ebenfalls sehr stark angegriffen. Allerdings haben Dynamik und Vehemenz eine neue Dimension erreicht.

Inwiefern?

Martin Fuchs

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In früheren Wahlkämpfen dominierten ein bis zwei große Themen und dabei ging es auch mal heftig zur Sache. Heute gibt es jeden Tag drei bis vier Debatten, die hitzig und hyperventilierend geführt werden und über denen halb Twitter durchdreht.

Ich wünsche mir eine viel, viel stärkere parteiübergreifende Solidarisierung mit Opfern von Hassattacken.Bild eines Anführungszeichens

Martin Fuchs

Politikberater und Blogger

Das Internet und die sozialen Medien spielen also eine besondere Rolle bei dieser neuen Dimension von Wahlkampf?

Martin Fuchs

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Die Digitalisierung und das Internet haben zu einer Beschleunigung geführt. Nichtsdestotrotz sehe ich auch bei den klassischen Medien eine sehr große Verantwortung. Nur wenn sie ein Thema aufgreifen, kann es auch seine volle Wirkung entfalten. Meine Medienkritik wäre, dass die Redaktionen nicht weiterhin jede Scheindebatte und jeden skandalisierten Aufreger in die Zeitung oder ins Fernsehen hieven.

Können Sie ein Beispiel nennen, was Sie lieber nicht gelesen oder gesehen hätten?

Martin Fuchs

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Ich habe allein 20 Interviewanfragen bekommen, um zu erklären, warum CDU-Kanzlerkandidat Armin Laschet jetzt schlecht dasteht, weil er auf Bildern die Hände in den Hosentaschen hat. Das ist für mich absurd.

Wobei Bilder und ihre Deutung auch früher eine große Wirkung entfaltet haben.

Martin Fuchs

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Ja, aber meiner Ansicht nach merkt man der Art des Wahlkampfes schon an, dass es diesmal um sehr viel mehr geht als in den 16 Jahren zuvor.

Weil die Ära Merkel endet?

Martin Fuchs

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Ja, wir sind an einem Scheideweg in der Frage, wohin sich Deutschland politisch entwickeln wird. Man könnte es eine historische Bruchstelle in der deutschen Demokratie nennen. Nach so langer Zeit, in der die gleiche Kanzlerin regiert hat – die am Ende auch immens hohe Beliebtheitswerte hatte – ist natürlich sehr viel volatil. Es ist klar, dass sich nach der Wahl sehr viel daran ändern wird, wie Deutschland geführt wird und wie es nach außen auftritt. Auch, dass die Grünen sich erstmals um das Kanzleramt bewerben, ist historisch einmalig. Aus all diesen Gründen ist klar: Wer jetzt in eine Machtposition gelangt, kann viel bewegen.

Daher die Härte im Wahlkampf?

Martin Fuchs

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Deshalb sind die Angriffe viel, viel schärfer und häufiger. Der politische Gegner wird minütlich, eigentlich sekündlich analysiert und versucht, etwas auszuschlachten. Auch das, was man Gegnerbeobachtung nennt, hat sich massiv intensiviert. Ich erinnere mich an die Diskussion 2013 über Steinbrücks inszeniertes Foto mit dem Stinkefinger. Das wurde kontrovers diskutiert. Derzeit scheint es jeden Tag ein Foto zu geben, das skandalisiert wird.

Heute gibt es jeden Tag drei bis vier Debatten, die hitzig und hyperventilierend geführt werden.Bild eines Anführungszeichens

Martin Fuchs

Politikberater und Blogger

Die mediale Wahrnehmung ist, dass die beiden Kandidaten und die Kandidatin eher enttäuschen. Wie sehen Sie das?

Martin Fuchs

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Naja, das würde ich nicht so hoch hängen. Wir haben gerade über Angela Merkel gesprochen. Auch ihr wurde nicht zugetraut, das Land bestmöglich zu repräsentieren, als sie zum ersten Mal kandidiert hat. Deshalb denke ich, auch diesmal werden die Zweifel mit der Zeit verschwinden, wenn erstmal jemand im Kanzleramt sitzt.

Worüber ich eher enttäuscht bin, ist die große Unprofessionalität bei den Kampagnen. Da sind viele Fehler passiert, die ich nicht erwartet hätte, bei den hohen Standards die inzwischen eigentlich üblich sind.

Zum Beispiel?

Martin Fuchs

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Bei den Grünen natürlich Annalena Baerbocks zusammengeschustertes Buch, an dem gefühlt 100 Leute beteiligt waren, das eigentlich keiner gebraucht hätte, weil es kein Mensch wirklich liest, und mit dem den Gegnern eine prima Quelle geliefert wurde, um nach Fehlern zu suchen. Außerdem macht man einen richtigen Check, bevor man eine Kandidatin ausruft: Was hat sie schon veröffentlicht? Wie sieht ihre Website aus? Dass so grundlegende Sachen nicht gemacht wurden, war ein Fehler, der den Grünen unterlaufen ist. Auch bei Armin Laschet war viel Unprofessionalität im Spiel: Dass die Staatskanzlei NRW sein Podium vor einen großen Müllberg stellt und damit Bilder produziert, die echt schräg sind und Hohn und Kritik produzieren, das darf einfach nicht passieren.

Die Grünen-Kanzlerkandidatin Annalena Baerbock ist ganz besonders Zielscheibe von Hassattacken im Netz, nämlich rund dreimal so oft wie CDU-Kandidat Armin Laschet. War das zu erwarten und wie können Politiker*innen und Parteien künftig geschützt werden?

Martin Fuchs

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Ja, ich habe das erwartet, weil die Grünen fast schon eine Hass-Antipode für viele andere im politischen Geschäft sind:  Die SPD hat Angst davor, das linke Wähler-Spektrum an die Grünen zu verlieren, für die AfD sind sie ohnehin der Feind und die CDU hat etwas gegen das grüne Ideal und Weltbild. Hinzu kommt, dass eine vergleichsweise junge Frau in der Politik – in der ältere Männer dominieren – immer polarisiert. Die älteren Männer wollen ja ihre Machtposition nicht verlieren.

Gibt es bei dieser Gemengelage überhaupt eine Möglichkeit, Kandidatin und Partei vor Attacken zu schützen?

Martin Fuchs

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Sicherlich könnte Annalena Baerbock souveräner auftreten, wäre sie besser als ein anderer Politikertyp in die breite Öffentlichkeit eingeführt worden: als normale Frau aus der Mitte der Gesellschaft, die versucht, Kind und Karriere zu vereinbaren und natürlich Fehler macht, so wie alle anderen Eltern auch. Das hätte die Partei anders inszenieren können.

Vor allem aber würde ich mir eine viel, viel stärkere parteiübergreifende Solidarisierung mit Opfern von Hassattacken wünschen. Zum Teil ist das ja auch passiert, dass politische Akteure Baerbock in Schutz genommen haben oder sich etwa jetzt gegen die Mist-Kampagne solidarisch zeigen. Aber da ginge noch viel mehr.

Was meinen Sie?

Martin Fuchs

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Es gab einen Instagram-Post der CSU, der zeigt Annalena Baerbock mit Kackhaufen über dem Kopf. Das ist kein Wahlkampf mehr, das ist absolut unter der Gürtellinie. Da hätte sich der Generalsekretär hinstellen müssen und sagen: Leute, das geht so nicht, das ist nicht in Ordnung.

Natürlich kann eine Partei nicht alle Wahlkämpfenden steuern, nicht jedes Posting kann freigegeben werden. Aber wenn es solche Entgleisungen gibt, sollten Parteivorsitzende und Generalsekretäre einschreiten und sich klar positionieren.

Martin Fuchs
Corona wird das dominierende Wahlkampfthema bleiben, vermutet Politikberater und Blogger Martin Fuchs. | © privat

Über Martin Fuchs

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Der Politikberater und Blogger begeistert sich nicht nur für demokratische Prozesse, sondern auch für digitale Kommunikation. In Thüringen geboren, lebt Martin Fuchs nach Stationen in Brüssel und Berlin mittlerweile in Hamburg, wo er unter hamburger-wahlbeobachter.de über Social Media in der Politik bloggt. Regierungen, Parlamente und Parteien schätzen seine Expertise, wenn es um digitale Kommunikation von politischen Akteuren geht. Aktuell sind die Bücher „Demokratieverstärker“ und „Parlamentarische Demokratie heute und morgen“ erschienen, an denen Martin Fuchs als Mitautor beteiligt ist.

Welche Themen sehen Sie in den letzten Wochen des Wahlkampfes ganz oben?

Martin Fuchs

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Ich denke, Corona wird dominierend bleiben, mit Unterthemen wie Bildungspolitik, Digitalisierung und dem Thema Bürger- und Freiheitsrechte rund um die ganze Impfdiskussion. Auch das Klima wird sicher noch eine Rolle spielen und der Umgang mit dem missglückten Rückzug aus Afghanistan.

Haben Sie einen Tipp, was künftige Mehrheiten, Koalitionen oder gar das Kanzleramt angeht?

Martin Fuchs

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Mit solchen Tipps kann man in der Regel nur scheitern, deshalb halte ich mich zurück. Was man aber sagen kann, ist, dass die künftige Regierung sehr wahrscheinlich aus vier Parteien bestehen wird. Zudem wird höchstwahrscheinlich eine davon die FDP sein. Das ist interessant, weil die Liberalen derzeit in der öffentlichen Debatte keine so große Rolle spielen. Ich denke aber, sie werden etwa bei den Koalitionsverhandlungen eine gewichtige Stimme sein.

Superwahljahr 2021

Pfeil

Bei einer demokratischen Wahl können Bürgerinnen und Bürger Einfluss auf die Geschicke ihres Landes nehmen. 2021 gibt es dazu reichlich Gelegenheit: In der ersten Jahreshälfte waren Landtagswahlen in Baden-Württemberg, Rheinland-Pfalz und Sachsen-Anhalt sowie Kommunalwahlen in Hessen.  Am 12. September stehen die Kommunalwahlen in Niedersachsen an. Der 26. September ist der Tag der Bundestagswahl, Berliner*innen wählen außerdem ihr Abgeordnetenhaus und die Bezirksverordnetenversammlung. In Mecklenburg-Vorpommern und Thüringen sind am gleichen Tag Landtagswahlen.

Es gibt also viele Anlässe für Politikerinnen und Politiker, um die Gunst der Wählerschaft zu werben. Obwohl der Wahlkampf in diesem Jahr pandemiebedingt tüchtig auf den Kopf gestellt werden dürfte. Kontaktverbote und Abstandsregeln haben eine Verlagerung ins Digitale bewirkt. Aktive Politikerinnen und Politiker sind als Krisenmanager*innen einem dauernden Stresstest ausgesetzt – und das im Rampenlicht. Währenddessen buhlen rechte Agitator*innen um Menschen, die mit den Anti-Corona-Maßnahmen der Politik unzufrieden sind. Außerdem wird es nach vier Legislaturperioden erstmals einen neuen Bundeskanzler oder eine neue Bundeskanzlerin geben. Das heißt also: Das Wahljahr 2021 birgt eine Reihe von Besonderheiten und Herausforderungen, die es in der Geschichte unserer Demokratie zu einem Wegweisenden machen. Uns ist das eine eigene Wahl-Serie im Blog der Nemetschek Stiftung wert – mit Interviews und Berichten zu vielen Facetten im Superwahljahr 2021.