19. April 2021

To-do-Liste für die Demokratie

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Digitale Tools, öffentliche Räume für Gespräche außerhalb der eigenen Komfortzone eröffnen, Partizipationsangebote für Jugendliche und vielfältige Rollenbilder im Kino und Fernsehen – insgesamt 21 Ideen zur konkreten Stärkung der Demokratie hat die Hertie-Stiftung zusammengetragen.

Buch "Demokratieverstärker"
Mit 21 Ideen will die Hertie-Stiftung die Demokratie stärken. | ©iStock/tomertu

Eine charmante Idee: Die Deutsche Bahn richtet „Gesprächsabteile“ in den Zügen ein. Größer als normale Abteile, mit Platz für sechs bis acht Menschen, die miteinander ins Gespräch kommen oder vielleicht auch nur zuhören, wenn andere sich unterhalten. Auf den Tischen liegen „Eisbrecherfragen“, die Gesprächsanlässe bieten, etwa zu Themen wie Nachbarschaft oder Familie. Laura-Kristine Krause, Gründungsgeschäftsführerin der Organisation „More in Common Deutschland“ regt dazu an, Alltagsorte für den gesellschaftlichen Zusammenhalt zu nutzen.

Das ist eine von 21 Ideen, die in den kommenden zwölf Monaten sofort ohne größeren Aufwand umgesetzt werden könnten. Nachzulesen im Buch „Demokratieverstärker“, herausgegeben von Elisabeth Niejahr und Dr. Grzegorz Nocko von der Gemeinnützigen Hertie-Stiftung. Sie haben unterschiedlichste Autorinnen und Autoren darum gebeten, ihre Ideen für die Stärkung der Demokratie aufzuschreiben. Ausgehend von der Beobachtung, dass Demokratie vor allem in den Medien oft mit Protest, Rebellion und Dagegensein verknüpft ist, sollten positive Impulse gesetzt werden.

Das Buch sammelt konkrete Vorschläge, wie Demokratie stabil und lebendig bleibt.Bild eines Anführungszeichens

Dr. Grzegorz Nocko

Berliner Büro der Hertie-Stiftung

Vorschläge für eine stabile, lebendige Demokratie

„Als guter Demokrat gilt jemand, der gegen etwas ist. Mediale Aufmerksamkeit erhält, wer kritisiert. Das wiederum führt zu einem Eindruck der ständigen Krise. Wie oft haben wir schon die Überschrift ,Demokratie in Gefahr‘ gesehen“, erläutert Dr. Grzegorz Nocko. „Unser Buch verfolgt den Ansatz deutlich zu machen, was für die Demokratie getan werden kann. Das Buch sammelt Vorschläge, wie Demokratie stabil und lebendig bleibt. Diese praxisorientierte Arbeit gehört zur DNA der Hertie-Stiftung: Wir wollen konkret etwas tun und vor Ort etwas ändern.“ Deshalb gab es die Bitte an die Autorinnen und Autoren, auch gleich darzulegen, wie ihre Ideen innerhalb von zwölf Monaten umsetzbar sind.

Weil Demokratie nicht nur eine Angelegenheit der Politik ist, kommen neben Stimmen aus den Parteien auch Persönlichkeiten aus einem breiten gesellschaftlichen Spektrum zu Wort: Der Regisseur und Drehbuchautor Nico Hofmann und der Dramaturg Thomas Laue etwa setzen sich für vielfältige Rollenbilder in Kino und Fernsehen ein. Daniel Terzenbach, Vorstandsmitglied der Bundesagentur für Arbeit, entwickelt Ideen, wie Fachkräfte aus dem Ausland gewonnen und bei der Integration unterstützt werden können. Verantwortliches Lernen durch Engagement ist das Stichwort von Gloria Boateng vom gemeinnützigen Bildungsverein „SchlauFox“ e.V., die das Schulfach „Auf mich kommt es an“ vorstellt.

Buch Demokratieverstärker
Die Lektüre des Buchs „Demokratieverstärker“ macht richtig Lust, gleich loszulegen und die Demokratie lebendig zu erhalten.

Debatten außerhalb der eigenen „Bubble“

„Beim Zusammenstellen der Beiträge ist uns klar geworden, dass die Autorinnen und Autoren jeweils eine ganz unterschiedliche Sprache sprechen“, berichtet Grzegorz Nocko. „Manchmal waren die Vorschläge theoriegeleitet und wir haben die Umsetzungsideen gemeinsam konkretisiert. Dabei haben wir intern Diskussionen geführt, die für uns als Herausgeber-Team anregend waren.“ Denn das Buch möchte dazu ermutigen, Debatten zu führen – gerne außerhalb der Komfortzone der eigenen „Bubble“ und über politische Lager hinweg. Beispiel alternde Gesellschaft: Diese braucht neben einer Reform des Rentensystems vielleicht auch andere Mechanismen der Gesetzgebung zum Schutz der Interessen Jüngerer im Vergleich zur großen Wählergruppe der über 50-Jährigen. Die beiden Klimaexpertinnen Maja Göpel und Petra Pinzler fordern in ihrem Beitrag daher einen Enkeltest für neue Gesetze. Das wäre ein Korrektiv zugunsten der jüngeren Generation. Allerdings wirft die Idee weitere Fragen auf, denn unter Umständen wird die Gesetzgebung zu kompliziert. Oder wer bewertet die Ergebnisse des Enkeltests?

Obschon die Idee zu den „Demokratieverstärkern“ bereits vor Ausbruch der Corona-Pandemie entstand, greifen die Beiträge die derzeitige Krise auf unterschiedlichsten Ebenen auf. Die Politikerinnen Dorothee Bär (CSU) und Franziska Brantner (Grüne) engagieren sich für flexiblere Arbeitszeiten für Abgeordnete, um mehr Eltern für die politische Arbeit zu gewinnen. Sie setzen auf digitale Formate bei der Vereinbarkeit von Politik und Familie. „Wir nehmen an, dass die Corona-Krise auch die Erwartungen ändert, die Bürgerinnen und Bürger an Begegnungen haben“, sagt Grzegorz Nocko. „Schon heute werden der Austausch von Teams im beruflichen Umfeld oder private Treffen mit Freunden und Verwandten viel bewusster geplant als vor der Pandemie. Damit verändert sich das Wir. Die Frage ist: Was lässt sich daraus für politische Prozesse ableiten oder für Dialogangebote für Bürgerinnen und Bürger?“

Die Corona-Pandemie ändert das Wir – und die Erwartung der Bürgerinnen und Bürger an Begegnungen.Bild eines Anführungszeichens

Dr. Grzegorz Nocko

Berliner Büro der Hertie-Stiftung

Wolfgang Kaschuba, Vorstandsmitglied der deutschen UNESCO-Kommission, hat für letzteres einen Vorschlag: Neue Koalitionen der Zivilgesellschaft, etwa indem Chöre mit Fußballvereinen kooperieren und Stadtteilinitiativen mit Kirchengemeinden. „Da viele Initiativen mit ihren Themen oft nur ihr eigenes Milieu erreichen, sollen sich neue Bündnisse bilden, miteinander in den Dialog treten und neue Beteiligungsformen entwickeln“, schreibt er. Dass die „Demokratieverstärker“ möglichst alle Gesellschaftsschichten ansprechen, wünscht sich natürlich auch das Herausgeberteam. Grzegorz Nocko weiß von seiner Nachbarin zu berichten, die es gelesen hat und sich darüber freut, dass man je nach Stimmung und Interesse nur einzelne Beiträge lesen kann. „Sie hat es bereits ihrer Tochter weiterempfohlen, die wiederum mit ihren Kolleginnen und Kollegen in der Verwaltung darüber spricht.“ Für die Hertie-Stiftung ist entscheidend, dass die Stärkung der Demokratie als Projekt verstanden wird, als etwas, das man sich vornehmen muss und sie versteht das Buch als To-do-Liste.

Portrait Grzegorz Nocko
Dr. Grzegorz Nocko ist inspiriert worden von Karl Poppers kritischem Rationalismus: Mit kleinen Verbesserungsschritten, wohl überlegt und im Alltag zügig umzusetzen, lässt sich die Demokratie stärken. | © Hertie-Stiftung/Stefan Lucks

Über Dr. Grzegorz Nocko

Pfeil

Dr. Grzegorz Nocko leitet das Hauptstadtbüro und das internationale Fellows Programm der Hertie-Stiftung. Der promovierte Bildungswissenschaftler arbeitet als Coach und Trainer in der politischen Bildung und ist Mitglied vieler internationaler Netzwerke. Die Arbeit der Hertie-Stiftung konzentriert sich auf zwei Leitthemen: Gehirn erforschen und Demokratie stärken. Dabei stehen immer der Mensch und die konkrete Verbesserung seiner Lebensbedingungen im Fokus.  Das Buch „Demokratieverstärker“ ist im Campus-Verlag erschienen und kostet 22,95 Euro (ISBN 978-3-593-51383-6).