22. Juli 2021

Über die Zumutungen der Demokratie

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Mehr Eltern, mehr Handwerker*innen, mehr Migrant*innen: Der Bundestag könnte viel diverser sein. Aber wie fördert man Vielfalt? Die Rechtswissenschaftlerin Prof. Sophie Schönberger spricht im Interview über die Vorgaben der Verfassung, demokratische Zumutungen und Gefahren eines homogen besetzten Parlaments.

Wie vielfältig unsere Gesellschaft ist, bildet sich im Bundestag derzeit nicht ab.
Wie vielfältig unsere Gesellschaft ist, bildet sich im Bundestag derzeit nicht ab. | © Adobe Stock/vector_s

Prof. Schönberger, im September wird ein neuer Bundestag gewählt. Das lenkt den Blick darauf, wer die Bürgerinnen und Bürger vertritt. Zuletzt wurde Kritik geübt, dass das Bundesparlament den Querschnitt der Bevölkerung nicht breit genug abbildet. Teilen Sie diese Einschätzung?

Prof. Sophie Schönberger

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Da muss ich mit einer typischen Juristenantwort kontern: Es kommt darauf an. Erstmal ist es kein großes Problem, dass das Parlament die Bevölkerung nicht haargenau abbildet. Staatsrechtlich gesehen ist unsere Idee von Repräsentation nicht, dass die Bevölkerung 1:1 im Parlament gespiegelt wird und die verschiedenen Gruppen etwa hinsichtlich Beruf, Geschlecht oder ethnischem Hintergrund genauso dort vertreten sind. Unsere Vorstellung von politischer Repräsentation setzt voraus, dass ich auch jemanden wählen und mich von ihm repräsentieren lassen kann, der völlig anders ist als ich, der ein anderes Geschlecht, eine andere Hautfarbe, ein anderes Alter, einen anderen Beruf hat. Das ist erstmal völlig unproblematisch und in gewissem Umfang auch Ausdruck demokratischer Freiheit.

Das ist aber nur eine Betrachtungsweise?

Prof. Sophie Schönberger

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Genau, denn auf der anderen Seite ist es natürlich so, dass die parlamentarische Demokratie davon lebt, dass im Parlament verschiedene Sichtweisen, Perspektiven, Ansätze und ein unterschiedlicher Blick auf die Dinge artikuliert werden und in Debatten aufeinandertreffen. Eben genau so, wie auch in der Bevölkerung die Perspektiven verschieden sind. Das kann aber nur funktionieren, wenn ein gewisses Maß an Diversität im Parlament vertreten ist. Wenn dort gerade nicht nur Menschen mit ähnlichem Bildungshintergrund, gleichem Geschlecht, ähnlicher Alterskohorte usw. sitzen, sondern ganz verschiedene Aspekte von Lebenswirklichkeit in Deutschland repräsentiert werden.

Wenn man diesen Maßstab an den jetzigen Bundestag anlegt, wie fällt dann das Ergebnis aus?

Prof. Sophie Schönberger

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Tatsächlich gibt es Diversität im Bundestag aus verschiedenen Gründen im Moment – und sehr wahrscheinlich auch nach der Wahl – nur eingeschränkt.

Das ist letztlich die große Zumutung, die die Demokratie für uns bereithält: dass wir die demokratische Gleichheit akzeptieren müssen in einer Gesellschaft, in der wir faktisch alles andere als gleich sind.Bild eines Anführungszeichens

Prof. Sophie Schönberger

Rechtswissenschaftlerin

Welche Folgen kann ein sehr homogen besetztes Parlament haben?

Prof. Sophie Schönberger

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Es verengt ein bisschen den Blick auf die Lebensperspektiven, die repräsentiert werden sollen. Das heißt nicht, dass jede und jeder Abgeordnete nur das eigene Leben, das eigene soziale Umfeld die eigene Ausbildung reflektiert. Aber natürlich hat jeder von uns einen gewissen Fokus. Uns sind die eigenen Erfahrungen, das eigene Umfeld, das eigene Leben näher als das der anderen. Und die Fähigkeit, sich in andere Menschen hineinzuversetzen ist nun einmal auch sehr unterschiedlich ausgeprägt bei den Menschen.

Was folgt daraus?

Prof. Sophie Schönberger

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Es besteht die Gefahr, dass bestimmte Perspektiven nicht hinreichend gewürdigt werden. Ein Beispiel dafür ist der Altersdurchschnitt im Parlament, der deutlich über dem der Bevölkerung liegt. Deshalb haben wir gerade eine große gesellschaftliche Diskussion darüber, ob Zukunftsthemen und Themen, die Kinder und Jugendliche betreffen, im Parlament hinreichend gewürdigt werden. Das betrifft den Klimaschutz, aber aktuell zum Beispiel auch die Rolle, die der Schutz und die Fürsorge für Kinder und Jugendliche in der Pandemie-Bekämpfung haben.

Also halten Sie die aktuelle Diskussion für gerechtfertigt?

Prof. Sophie Schönberger

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Auf alle Fälle! Es ist ein wichtiger politischer Prozess, darüber zu reden, welche Blickwinkel im Parlament und in der Politik allgemein artikuliert werden und welche vielleicht auch überrepräsentiert sind.

Gibt es rechtliche Vorgaben hinsichtlich der Zusammensetzung des Bundestages?

Prof. Sophie Schönberger

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Nein, im Gegenteil. Verfassungsrechtlich haben wir das ganz starke Ideal der demokratischen Freiheit und Gleichheit. Beides ist sehr wichtig. Ohne demokratische Freiheit und freie Willensbildung kann Demokratie natürlich gar nicht funktionieren. Das gleiche gilt auch für die demokratische Gleichheit. Im demokratischen Prozess ist jeder erstmal gleich, jede Stimme gleich viel wert. Jeder hat rechtlich gesehen die gleichen Chancen und muss sie auch haben. Das ist genauso zentral, wie es auch eine Zumutung ist.
Prof. Sophie Schönberger
Zu mehr Diversität im Bundestag kommen wir nur über einen Prozess der kleinen Schritte, sagt die Rechtswissenschaftlerin Prof. Sophie Schönberger. | © HHU/Jochen Müller

Über Prof. Sophie Schönberger

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Die Rechtswissenschaftlerin Prof. Sophie Schönberger ist Professorin für Öffentliches Recht, Kunst- und Kulturrecht an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf und Ko-Direktorin des Instituts für Deutsches und Internationales Parteienrecht und Parteienforschung. Sie forscht zum Verfassungs-, Wahl- und Parteienrecht und ist Mitglied der Kommission zur Reform des Bundeswahlrechts und zur Modernisierung der Parlamentsarbeit des Deutschen Bundestages.

Inwiefern eine Zumutung?

Prof. Sophie Schönberger

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Weil wir natürlich real überhaupt gar nicht gleich sind. Weil es für jemanden mit einem höheren Bildungsabschluss mit familiären Kontakten in Parteien, mit männlichem Geschlecht, ohne Migrationshintergrund, ohne Belastungen durch Pflege oder Kindererziehung, viel, viel leichter ist als für andere, in einer Partei eine Karriere zu machen, die dann später in ein Parlamentsmandat mündet. Das sind faktische Ungleichheiten, die bestehen, die man nicht wegdiskutieren kann, bei denen uns aber das Ideal demokratischer Gleichheit trotzdem in einem gewissen Umfang zwingt, sie auszublenden, weil wir eben diese Differenzierung nicht vornehmen dürfen beim Beginn des politischen Prozesses.

Aber später schon?

Prof. Sophie Schönberger

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Man kann nach der Wahl politische Maßnahmen allenthalben unternehmen, um diese Unterschiede abzumildern, aber wenn Sie schon am Beginn des demokratischen Prozesses diese politische Gleichheit angreifen, dann sind Sie auf dem Weg zu einem ganz gefährlichen Prozess, der letztlich nicht mehr demokratisch ist. Das ist die große Zumutung, die die Demokratie für uns bereithält: dass wir die demokratische Gleichheit akzeptieren müssen in einer Gesellschaft, in der wir faktisch alles andere als gleich sind.

Was meinen Sie damit, wenn Sie sagen, das Staatsrecht erlaubt zu Beginn des politischen Prozesses keine Ungleichheit? Was wäre zum Beispiel nicht erlaubt?

Prof. Sophie Schönberger

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Man kann nicht sagen: Frauen, die Kinder betreuen sind unterrepräsentiert und bekommen deshalb zwei Stimmen bei der Bundestagswahl, damit sie stärker repräsentiert sind. Das ist etwas, was ganz klar nicht geht. Man könnte es politisch argumentieren, es gäbe auch sachliche Gründe, weil man einen Nachteil ausgleicht, aber es wäre ein urundemokratischer Prozess. Das als Extrembeispiel.

Wie sieht es mit Quoten als Instrument aus?

Prof. Sophie Schönberger

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Brandenburg und Thüringen wollten die Wahllisten nach Geschlecht quotieren, in beiden Ländern hat das Verfassungsgericht das Vorhaben gekippt. Und meiner Ansicht nach würden andere Landesverfassungsgerichte und auch das Bundesverfassungsgericht genauso urteilen. Weil diese Quoten an der ganz elementaren Gleichheit der Wahl ansetzen, weil dadurch eben nicht mehr jeder auf jedem Listenplatz kandidieren kann. Es wäre eine Ungleichbehandlung, die mit dem ganz formalen Verständnis von Gleichheit nicht in Einklang zu bringen ist.

Tatsächlich gibt es Diversität im Bundestag aus verschiedenen Gründen im Moment – und sehr wahrscheinlich auch nach der Wahl – nur eingeschränkt.Bild eines Anführungszeichens

Prof. Sophie Schönberger

Rechtswissenschaftlerin

Gibt es überhaupt eine Handhabe für mehr Diversität im Bundestag?

Prof. Sophie Schönberger

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Beim Wahlverfahren selbst ist das sehr schwierig, ich sehe derzeit keine Lösung, die diskutiert wird, die verfassungskonform wäre. Bei den Parteien anzusetzen, wäre meiner Ansicht nach leichter. Wir sehen ja auch, dass Parteien, die in ihr Satzungsrecht eine Quotierung eingefügt haben, hinsichtlich der Geschlechterverteilung paritätischer besetzt sind als andere, die das nicht getan haben. Ich glaube allerdings nicht, dass man per Gesetz so eine Regelung bei allen Parteien festschreiben könnte.

Es muss also in den Parteien der Wille zur Veränderung, zu mehr Vielfalt, da sein?

Prof. Sophie Schönberger

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Das wäre natürlich, was am besten helfe würde: wenn in den Parteien der Wille da wäre. Aber da sollte man realistisch bleiben. Wer gibt dann gerne Macht ab? Eigentlich verlangen wir von den Menschen, die jetzt an den Machthebeln sitzen, dass sie Platz für andere machen. Ich glaube nicht, dass das so plötzlich passiert.

Wo könnte man dann ansetzen?

Prof. Sophie Schönberger

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Staatlich regulierend einzugreifen, halte ich für sehr schwierig. Ich denke, es ist ein Prozess der ganz kleinen Schritte. Nehmen Sie als Beispiel die Repräsentation von Frauen: Man müsste überlegen, wie Parteiarbeit so zu organisieren ist, dass sie stärker mit Familienarbeit zu vereinbaren ist. Wichtig wäre z.B. auch ein Mutterschutz für Abgeordnete. Derzeit erscheint in der Bilanz nur eine Fehlzeit, egal ob jemand ein Kind geboren hat oder in Urlaub ist. Ich denke, das wären kleine Schritte in die richtige Richtung, um ein Abgeordnetenmandat für einen größeren Kreis von Menschen attraktiv und erreichbar zu machen.

Haben Sie einen Tipp für die Mitglieder des neuen Bundestages?

Prof. Sophie Schönberger

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Es ist natürlich immer schwer, von außen Ratschläge zu erteilen, aber was immer hilft: offen bleiben, möglichst viele Gespräche führen, aus der eigenen Blase herausgehen.

Superwahljahr 2021

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Bei einer demokratischen Wahl können Bürgerinnen und Bürger Einfluss auf die Geschicke ihres Landes nehmen. 2021 gibt es dazu reichlich Gelegenheit: In der ersten Jahreshälfte waren Landtagswahlen in Baden-Württemberg, Rheinland-Pfalz und Sachsen-Anhalt sowie Kommunalwahlen in Hessen.  Am 12. September stehen die Kommunalwahlen in Niedersachsen an. Der 26. September ist der Tag der Bundestagswahl, Berliner*innen wählen außerdem ihr Abgeordnetenhaus und die Bezirksverordnetenversammlung. In Mecklenburg-Vorpommern und Thüringen sind am gleichen Tag Landtagswahlen.

Es gibt also viele Anlässe für Politikerinnen und Politiker, um die Gunst der Wählerschaft zu werben. Obwohl der Wahlkampf in diesem Jahr pandemiebedingt tüchtig auf den Kopf gestellt werden dürfte. Kontaktverbote und Abstandsregeln haben eine Verlagerung ins Digitale bewirkt. Aktive Politikerinnen und Politiker sind als Krisenmanager*innen einem dauernden Stresstest ausgesetzt – und das im Rampenlicht. Währenddessen buhlen rechte Agitator*innen um Menschen, die mit den Anti-Corona-Maßnahmen der Politik unzufrieden sind. Außerdem wird es nach vier Legislaturperioden erstmals einen neuen Bundeskanzler oder eine neue Bundeskanzlerin geben. Das heißt also: Das Wahljahr 2021 birgt eine Reihe von Besonderheiten und Herausforderungen, die es in der Geschichte unserer Demokratie zu einem Wegweisenden machen. Uns ist das eine eigene Wahl-Serie im Blog der Nemetschek Stiftung wert – mit Interviews und Berichten zu vielen Facetten im Superwahljahr 2021.