17. Juni 2024

Über die Zukunft der EU

Plus Icon Demokratie//Wahlen//

Bereits zum zehnten Mal wurde das Europäische Parlament gewählt. In fast allen Mitgliedstaaten konnten rechte Parteien Zuwächse verzeichnen, auch unter jungen Wähler*innen. York Albrecht vom Institut für Europäische Politik ordnet die Ergebnisse ein und wirft einen Blick auf die möglichen Folgen für die Staatengemeinschaft.

Zu sehen ist ein Raum mit vielen Stühlen und einem Podium. Es ist der Saal wo das Paralement der EU sich trifft.
Die Europawahl 2024 verändert die Machtstrukturen in Brüssel – und rückt den Anspruch an Rechtsstaatlichkeit der Mitgliedsstaaten in den Fokus. ©iStock/olrat

Herr Albrecht, Europa hat gewählt. Was sagen uns die Ergebnisse?

York Albrecht

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Aus meiner Sicht gibt es aktuell zwei verschiedene Ansätze, dieses Wahlergebnis zu deuten. Die einen sagen, der Rechtsruck war nicht so stark wie befürchtet. Heißt: Das Zentrum im europäischen Parlament ist immer noch stark genug, um eine Kommission ohne rechtspopulistische Parteien bilden zu können. Andere hingegen betonen die Zuwächse von rechtspopulistischen Parteien insbesondere in den großen und einflussreichen Mitgliedsstaaten. Unabhängig davon, ob der Rechtsruck nun stärker oder schwächer ist als erwartet, er ist bemerkbar und wird in den kommenden fünf Jahren auch Brüssel und das Europäische Parlament prägen.

Wer geht als Gewinner der Wahl hervor?

York Albrecht

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Aus meiner Sicht ist es die bürgerlich-konservative EVP mit Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen. Vor allem, weil es im Parlament jetzt an ihr kein Vorbeikommen mehr gibt. Sie ist ganz klar stärkste Macht. Die EVP befindet sich außerdem in einer sehr komfortablen Lage: Sie hat links und rechts Kooperationsmöglichkeiten. In der letzten Legislaturperiode sah das noch anders aus – da musste sie ziemlich viele Zugeständnisse an die grünen und liberalen Parteien machen. Das ändert sich jetzt.

Was könnte eine Öffnung der EVP nach rechts bedeuten?

York Albrecht

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Die EVP hat sich bereits nach rechts geöffnet. Sie ist heute eine andere, als sie das vor 2015 und vor dem Aufkommen rechtspopulistischer Parteien war. Da gab es schon eine Annäherung. Worauf jetzt geschaut werden muss, ist, inwieweit die EVP Zugeständnisse an die rechten Parteien macht. Sie hat immerhin festgelegt, nur mit Parteien kooperieren zu wollen, die pro-europäisch sind und die Rechtstaatlichkeit wahren. Das ist wichtig und es wird spannend zu sehen, ob sie daran festhält. Dennoch erwarte ich bei gewissen Gesetzesentwürfen ein Zusammenarbeiten mit rechten Personen, Parteien und Gruppen. Da funktioniert das Europäische Parlament einfach anders als beispielsweise der Bundestag – es gibt viel flexiblere Kooperationen, die sehr mit dem jeweiligen Diskussionspunkt zusammenhängen. Die EVP wird über ihre ideologischen Grenzen hinaus bei Themen wie Migration oder Klimapolitik auch mit Rechten abstimmen beziehungsweise werden ihre Anträge von rechtspopulistischen Parteien unterstützt, wenn es konkrete inhaltliche Übereinstimmungen gibt.

Die Wahlergebnisse wurden in Deutschland sehr stark auf Bundesebene diskutiert. Was stört sie daran?

York Albrecht

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Ich halte es für ein sehr großes Problem, dass die Ergebnisse der Wahl direkt nur auf die Bundespolitik bezogen wurden. Es gab kaum eine richtige Debatte über die Auswirkungen auf europäischer Ebene. Der Fokus auf die nationale Ebene verdeckt den Blick auf größere Zusammenhänge. Ein gutes Beispiel: In Deutschland hat die SPD ganz klar verloren – was eng mit der Unzufriedenheit der Wähler*innen mit der Bundesregierung zusammenhängt. Im Europäischen Parlament wird das jedoch dadurch ausgeglichen, dass sozialdemokratische Parteien in anderen Staaten Sitze dazugewonnen haben. Besonders in den skandinavischen Ländern konnten gute Ergebnisse erzielt werden. Die S&D-Fraktion hat hier insgesamt nur vier Sitze verloren, das geht in der deutschen Debatte unter.

Mit 16 Prozent landet die AfD auf Platz zwei der meistgewählten Parteien unter den 16- bis 24-Jährigen in Deutschland. Was lernen wir daraus?

York Albrecht

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Aus meiner Sicht ist die Erklärung der „TikTok-Generation“ enorm kurzsichtig. Es ist eine Verachtung dessen, welche Themen junge Wähler*innen umtreiben. Wir dürfen auch nicht vergessen, dass die stärkste Wählergruppe der AfD die 35- bis 44-Jährigen sind. Hier wird auch nicht die Schuld bei Medien wie Telegram oder ähnlichen Diensten gesucht. Zudem hat der Großteil der jungen Menschen nicht rechts, sondern sehr divers gewählt. Das sollten wir nicht unterschätzen, denn da sind viele kleinere Parteien mit einem fokussierten sozialpolitischen oder ökologischen Interesse dabei. Was wir aber festhalten müssen ist, dass die großen, etablierten Parteien die Ansprache junger Wähler*innen verpasst haben. Junge Menschen und ihre Themen wurden jahrelang vernachlässigt, da gibt es großen Nachholbedarf. Aus meiner Sicht würde es aber schon helfen, wenn junge Menschen und ihre Themen ernst genommen würden. Und ich meine damit Themen, die sie wirklich beschäftigen: bezahlbarer Wohnraum, Klimapolitik, Rentenpolitik und sozialpolitische Themen. Wir müssen uns von dem Narrativ verabschieden, dass sich junge Menschen nur für Bildungsthemen und Erasmus interessieren. Jetzt ist ein guter Zeitpunkt für die Parteien im Bundestag, ihren Zugang zu jungen Menschen zu überdenken.

Jetzt ist ein guter Zeitpunkt für die Parteien im Bundestag, ihren Zugang zu jungen Menschen zu überdenken.Bild eines Anführungszeichens

York Albrecht

Institut für Europäische Politik

Wie illiberal sind die rechten Parteien der EU? Und welche Auswirkungen hat eine größere Präsenz dieser Parteien in europäischen Parlamenten und Regierungen?

York Albrecht

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Da stellt sich mir zuerst einmal die Frage: Was bedeutet illiberal eigentlich? Illiberale Parteien sind für mich diejenigen, die sich zum Ziel gesetzt haben, bestimmte Checks and Balances systematisch abzubauen. Das heißt zum Beispiel, dass sie keinen politischen Respekt vor Wahlentscheidungen aufbringen, ihr Demokratieverständnis nur auf die Mehrheiten beziehen oder in die Rechte von Minderheiten, sei es sozial, ethnisch, religiös oder sexuell, eingreifen. Was dieses Eingreifen in demokratische Strukturen betrifft, sehen wir große Unterschiede bei den rechten Parteien in Europa. In Italien wird über eine Reform des Wahlrechts debattiert. Ein ähnliches Vorgehen konnten wir schon vor Jahren in Ungarn beobachten. Wenn wir uns rechte Parteien in Skandinavien oder den Niederlanden anschauen, zeichnet sich schon wieder ein etwas liberaleres Bild. Das heißt, es gibt da trotz der rechten Zuwanderungspolitik eine gewisse Hemmung, systematisch in die Staatsorganisation einzugreifen. Dennoch führt diese Europawahl zu einer stärkeren Präsenz dieser Parteien im Europäischen Parlament. Es ist zu erwarten, dass diese in Diskussionen oft migrationskritische, zuwanderungsfeindliche und teilweise rassistische Positionen vertreten und Kooperationen mit konservativen Parteien verfolgen werden.

Was sind aus Ihrer Sicht als Wissenschaftler jetzt die größten politischen Herausforderungen der EU?

York Albrecht

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Ein sehr großes Thema ist die Frage der internationalen Wettbewerbsfähigkeit der EU und der nationalen Volkswirtschaften. Die Europäische Kommission hat nun Strafzölle gegen chinesische Elektroauto-Hersteller verhängt. Da sehen wir, dass es global eine große Konkurrenz gibt und sich Blöcke bilden, die versuchen, ihre eigene Wettbewerbsfähigkeit zu verteidigen. Während der Globalisierung in den 80er Jahren stieg die globale Vernetzung sprunghaft an, mittlerweile ist eine Gegenbewegung hin zum Protektionismus festzustellen.  Es geht immer mehr darum, die eigene Stärke zu verteidigen, die auch darauf beruht, die eigene Relevanz auf weltpolitischer Ebene zu erhalten. Die globale Wettbewerbsfähigkeit spielt also eine sehr große Rolle, weil sich daran auch entscheidet, wie viele Menschen wegen abnehmendem Wohlstand und steigender Frustration bereit sind, Rechtsextreme zu wählen. Gleichzeitig spielt auch die sich verschärfende Klimakrise eine große Rolle. Momentan wird hier eher eine Entlastung von Unternehmen diskutiert, statt verstärkter Klimaschutzmaßnahmen. Aus europäischer Sicht ist es dennoch eine große Chance, das Wirtschaftsmodell auf die Notwendigkeit zur Klimaneutralität aufzubauen.

In Deutschland stehen im September drei Landtagswahlen in Brandenburg, Thüringen und Sachsen an. Welche Auswirkungen könnte die EU-Wahl auf die Landesebene haben?

York Albrecht

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Einerseits könnten die Ergebnisse der Europawahl einen gewissen Mobilisierungseffekt bei denjenigen haben, die sich jetzt erschreckt haben. Jedoch denke ich, dass den Menschen in diesen drei Bundesländern die Gefahr schon vorher bewusst war. Die Frage ist eher, wie sich die Union verhalten wird. Sie hat im Vorhinein Bündnisse ausgeschlossen und ihre Koalitionsfähigkeit selbst eingegrenzt. Im Endeffekt gibt es aber keine realistische Machtoption abseits der AfD, denn eine absolute Mehrheit ist sehr unwahrscheinlich. Es kann also entweder zu Minderheitsregierungen kommen– oder die Brandmauer fällt.

Ich hoffe, dass die Verteidigung der Rechtsstaatlichkeit in den kommenden Jahren höchste Priorität hat.Bild eines Anführungszeichens

York Albrecht

Institut für Europäische Politik

Was sind Ihre Hoffnungen und Erwartungen für die Zukunft der Europäischen Union? Gibt es bestimmte Reformen oder Maßnahmen, die Sie für besonders wichtig halten, um die EU zukunftssicher zu machen?

York Albrecht

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Ich hoffe, dass die Verteidigung der Rechtsstaatlichkeit in den kommenden Jahren höchste Priorität hat. Insbesondere, dass die Staatengemeinschaft die Auszahlung von EU-Mitteln an Mitgliedsstaaten, die rechtstaatliche Prinzipen verletzen, stoppt und Gelder einfriert. Die nationalen Steuermittel, die in die EU-Kassen fließen, dürfen nicht an rechtspopulistische Parteien gehen, die damit ihre eigene Macht stärken und Korruption vorantreiben. Es muss viel mehr darauf geschaut werden, dass die Verwendung von EU-Mitteln sauber abläuft. Das kann die rechtstaatlichen Probleme der Mitgliedsstaaten natürlich nicht lösen, es kann aber andere Staaten davon abhalten, zu weit zu gehen. Ich wünsche mir also einen größeren Einsatz der Kommission, aber auch der Mitgliedstaaten für die Rechtsstaatlichkeit und darüber hinaus auch eine klare Verteidigung derer, die vom Rechtsruck am meisten betroffen sind. Die Bewahrung der Rechte von Menschen mit Migrationsgeschichte und das Asylrecht sind Teil der Bewahrung von Rechtsstaatlichkeit. Es wäre fatal, diese Grundsätze des europäisch-politischen Denkens wegen der rechtspopulistischen Bedrohung zu Grabe zu tragen.

Über York Albrecht

Pfeil

York Albrecht ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Europäische Politik und forscht zu den Themen Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, Populismus und Illiberalismus. Aktuell arbeitet er in den Projekten „Ungarn neu denken – rethink Hungary“ und „RESILIO — Resilience observatory on the rule of law in Europe“.