30. April 2024

„Was es braucht, sind neue Narrative“

Plus Icon Bildung//Demokratie//

Alle haben sie, niemand will sie: Vorurteile. Dass diese leider auch den Nährboden für Populismus bilden, erklärt uns Dr. Nicole Harth im Interview. Sie spricht über soziale Kategorien, Medienkompetenztraining und wie es uns gelingen kann, neue Narrative zu schaffen.

Schubladendenken bietet den Nährboden für Populismus – ist in erster Linie aber Teil eines natürlichen, kognitiven Prozess. © iStock / Jorm Sangsorn
Schubladendenken bietet den Nährboden für Populismus – ist in erster Linie aber Teil eines natürlichen, kognitiven Prozess. © iStock / Jorm Sangsorn

Dr. Harth, warum ist niemand frei von Vorurteilen?

Dr. Nicole Harth

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Vorurteile sind Teil eines kognitiven Prozesses, bei dem unser Gehirn alles Wahrgenommene in Kategorien einteilt. Das ist in erster Linie sehr hilfreich, um sich in dieser doch sehr komplexen Welt zurechtzufinden. Würde unser Gehirn nicht so funktionieren, müssten wir in jeder Sekunde, in jedem Moment, alle Informationen einzeln aufnehmen und jedes Mal neu zusammensetzen. Stattdessen bilden wir soziale Kategorien. Das heißt, Dinge, die ähnlich sind, werden zusammengefasst. Das machen wir mit Objekten, aber auch mit Menschen oder Tieren.

Wie bestimmen Vorurteile unser Denken und mit welchen Folgen?

Dr. Nicole Harth

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Wir lernen früh Kategorien und Narrative, die uns zur Einordnung und zur Orientierung dienen. Sie sind aber natürlich nicht wertfrei und im Einzelfall machen wir bei der Kategorisierung auch Fehler, zum Beispiel wenn eine Übergeneralisierung stattfindet: Wir schreiben einer ganzen Kategorie bestimmte Eigenschaften zu, obwohl sie im Einzelfall gar nicht zutreffen. Diese Übergeneralisierung wird dann auf der Verhaltensebene problematisch. Wir glauben bestimmte Eigenschaften einer Person bereits zu kennen und behandeln sie dann auf eine bestimmte Art und Weise. Das ist der Punkt, wo die Probleme anfangen. Ein klassisches Beispiel sind Geschlechterstereotype: Hier haben wir klare Narrative, welche Fähigkeiten wir dem jeweiligen Geschlecht zuschreiben. Die haben wir sozial gelernt und sie sind kulturell überliefert. Sie haben aber oft mit der Realität nichts zu tun und sorgen dafür, dass wir Menschen bestimmte Fähigkeiten absprechen oder das gleiche Verhalten unterschiedlich interpretieren.

Populist*innen versprechen einfache Lösungen für komplexe Probleme.Bild eines Anführungszeichens

Dr. Nicole Harth

Professorin für Psychologie

Vorurteile können ein Nährboden für Populismus sein. Welchen Zusammenhang gibt es zwischen „Schubladendenken“ und Populismus?

Dr. Nicole Harth

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Der Populismus spielt mit Schwarz-Weiß-Denken. Er ist eine Vereinfachung der Welt – kommt unserer Denkweise also erst mal sehr entgegen. Etwas schnell in die Schubladen „gut“ oder „böse“ einsortieren zu können, ist angenehm. Denn es heißt, dass mein Gehirn sich nicht weiter damit auseinandersetzen muss. Damit spielen Populist*innen und sind sich dessen sehr wohl bewusst. Sie haben selten eine starke eigene inhaltliche Agenda, sondern greifen die Themen auf, die eben gerade diskutiert werden, die eingeordnet werden müssen. Die Welt ist für viele Menschen eine komplexe Herausforderung, und für einige mag der Populismus als eine Form der kognitiven Entlastung erscheinen.

Populismus erlebt aktuell einen Höhenflug. Wie kommt es, dass Populistinnen und Populisten mit offensichtlichen Lügen Erfolg haben? Und welche Rolle spielen die Medien dabei?

Dr. Nicole Harth

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Populist*innen versprechen einfache Lösungen für komplexe Probleme. Es gibt so Vieles, mit dem wir uns inhaltlich in unserem Alltag auseinandersetzen müssten. Das schaffen jedoch die Wenigsten. Populismus spielt mit etablierten Stereotypen und bekannten Bildern, um gegen bestimmte Bewegungen oder Gruppen Stimmung zu machen. Das gelingt leider überraschend gut, weil ständiges Faktenchecken und Hinterfragen anstrengender ist, als sich einfachen Antworten hinzugeben. Ich glaube, es wird nach wie vor stark unterschätzt, welche wichtige Rolle dabei auch die sozialen Medien spielen. Gerade populistische und rechtspopulistische Parteien nutzen die sozialen Medien als Instrument, um gezielt falsche Fakten zu verbreiten.

Wie können wir als Gesellschaft Vorurteilen und Populismus entgegentreten?

Dr. Nicole Harth

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Wir müssen lernen auszuhalten, dass es nicht immer eine einfach Antwort gibt. In der Wissenschaft nennen wir das Ambiguitätstoleranz. Diese Fähigkeit, Mehrdeutigkeit zu akzeptieren, lässt sich übrigens auch trainieren. Weiter zeigen Studien, dass insbesondere ältere Menschen die meisten Falschinformationen verbreiten. Da kommt das Thema Medienkompetenztraining ins Spiel. Was ich aber besonders wichtig finde: Wir müssen wieder mehr ins Gespräch kommen – sei es im Freundes-, Familien- oder Bekanntenkreis. Wir müssen auch auf struktureller Ebene Menschen in Kontakt bringen und dafür Gelegenheiten und Räume schaffen. Denn was es braucht, sind neue Narrative. Menschen müssen die Chance bekommen, ihre Vorurteile selbst abzubauen. Teilweise gibt es diese Räume ja auch schon – wir haben mehr Parität in Gesprächsrunden, in der Politik, in der Wirtschaft. Wir haben Podiumsdiskussionen, in denen endlich auch mal Menschen mit Migrationsgeschichte eingeladen sind. Das wirkt oft vielleicht noch ein bisschen bemüht, doch nur was wir häufig sehen, kann irgendwann zur Normalität werden. Denn was normal ist, ist hochflexibel. Es braucht manchmal eben nur ein bisschen Zeit.

Wir müssen lernen auszuhalten, dass es nicht immer eine einfache Antwort gibt.Bild eines Anführungszeichens

Dr. Nicole Harth

Professorin für Psychologie

Wie schätzen Sie die Wirkung von Formaten wie der Tagung „Wer, wenn nicht wir?“ auf das gesellschaftliche Miteinander ein?

Dr. Nicole Harth

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Tagungen wie die in Tutzing schaffen Raum für neue Perspektiven. Raum, sich in andere Personen hineinzufühlen. Dort finden ganz unterschiedliche Menschen zusammen, können sich austauschen und haben dadurch die Möglichkeit, Vorurteile zu reduzieren. Das gelingt besonders gut, wenn Gruppen divers besetzt sind. Kontakt ist nach wie vor das beste Mittel, das wir haben. Und wenn politische Bildung ein Momentum dafür schafft, kann das viel bewirken.

Über Dr. Nicole Harth

Pfeil

Dr. Nicole Harth ist Professorin für Psychologie und forscht und lehrt seit 2014 an der Ernst-Abbe-Hochschule Jena zu Themen wie Konfliktlösung, Vorurteilen, sozialer Diskriminierung und sozialer Kompetenz. 2024 war sie zu Gast beim Werkraum Demokratie in Tutzing. An der Ernst-Abbe-Hochschule Jena ist sie entscheidend an der Entwicklung und Etablierung des Masterstudiengangs „Civic Education. Demokratiearbeit in der digitalisierten Gesellschaft” beteiligt.