20. Dezember 2021

„Fast alle Menschen im Bundestag haben studiert“

Plus Icon Demokratie//Wahlen//

Das Superwahljahr geht zu Ende, eine neue Bundesregierung ist im Amt, die Zusammensetzung des Bundestages hat sich geändert. Wer sind die, die uns jetzt vertreten? Der Politikwissenschaftler Prof. Dr. Schäfer über exklusive Parlamente, Olaf Scholz auf Pro7 und das Wahlrecht für 16-Jährige.

Unterschiedliche Perspektiven in Bundestag, Kabinetten und Expertengremien bereichern politische Debatten. | © Shutterstock/Flash Vector

Prof. Dr. Schäfer, Sie beklagen, unsere Parlamente seien „Akademikerparlamente“, die nicht die Bandbreite der Bevölkerung abbilden. Nun ist der neue Bundestag der größte, den es je gab. Ist er denn auch repräsentativer als der alte?

Prof. Dr. Armin Schäfer

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Nur in bestimmter Hinsicht. Der neue Bundestag ist etwas jünger als der vorherige. Auch der Frauenanteil ist ganz leicht gestiegen, liegt aber immer noch unter 50 Prozent. Wir haben also keine paritätische Repräsentation. Menschen mit nicht weißer Hautfarbe und nicht deutscher familiärer Herkunft sind auch etwas stärker vertreten als bisher. In diesen Hinsichten hat sich also etwas verschoben – zwar nicht hin zu einer spiegelbildlichen Repräsentation der Bevölkerung, aber doch hin zu mehr deskriptiver Repräsentation.

Aber nicht in jeder Hinsicht?

Prof. Dr. Armin Schäfer

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Nein. Wenn wir auf die Bildungsabschlüsse und Berufe blicken, ist die Exklusivität sogar noch größer geworden. 88 Prozent der Abgeordneten des neuen Bundestags sind Akademikerinnen oder Akademiker. Fast alle Menschen im Bundestag haben studiert. Zum Vergleich: In der Bevölkerung sind es rund 20 Prozent. In dieser Hinsicht klaffen also Gesellschaft und Bundestag weit auseinander, und zwar noch stärker als bisher schon. Auch Arbeiterinnen und Arbeiter sind kaum repräsentiert.

Warum ist das problematisch?

Prof. Dr. Armin Schäfer

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Als Antwort möchte ich die Corona-Pandemie als Beispiel nehmen. Das ist ein Ereignis, das überraschend kam, worauf es keine gute Vorbereitung gab, das nicht schon in den Parteiprogrammen abgearbeitet war. Zusammengefasst: eine besondere Herausforderung. In solchen Situationen ist es wichtig, eine Vielfalt an Perspektiven zu haben. Wenn aber diejenigen, die wichtige Entscheidungen treffen müssen, alle eine sehr ähnliche Perspektive haben, weil sie einer ähnlichen sozioökonomischen Schicht entstammen, dann geht etwas in der Debatte verloren. Bestimmte Sichtweisen werden nicht eingebracht, bestimmte Themen werden nicht auf die Agenda gesetzt. Das verengt die Diskussion und damit vielleicht auch die Reaktion auf neue Herausforderungen, die ständig auftreten.

Die Wahlbeteiligung der Bundestagswahl 2021 lag bei 76,6 Prozent und ist damit das dritte Mal in Folge gestiegen. Werden jetzt auch vermehrt Nichtwählerinnen und Nichtwähler erreicht?

Prof. Dr. Armin Schäfer:

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Die Tendenz gibt es. Allerdings ist der Sprung von 76,2 vor vier Jahren auf 76,6 Prozent nicht hoch genug, um das grundlegende Muster zu verändern. Wir haben weiterhin sehr große Unterschiede in der Wahlbeteiligung festgestellt.

Wenn diejenigen, die wichtige Entscheidungen treffen müssen, alle eine sehr ähnliche Perspektive haben, weil sie einer ähnlichen soziökonomischen Schicht entstammen, dann geht etwas in der Debatte verloren.Bild eines Anführungszeichens

Prof. Dr. Armin Schäfer

Politikwissenschaftler

Wo verlaufen diese Unterschiede?

Prof. Dr. Armin Schäfer

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Zwischen „reichen“ und „armen“ Stadtteilen liegen oft 50 Prozentpunkte in der Wahlbeteiligung. Und es gibt ein ganz klares Muster, dass Menschen, die über ein höheres Einkommen verfügen, über höhere Bildungsabschlüsse und Berufe mit höherem sozialem Status in sehr viel größerem Maße wählen gehen als Menschen, die das alles nicht haben.

Bundeskanzler Scholz hat für (durchaus positive) Schlagzeilen gesorgt, als er sich kurz vor Amtsantritt in einer Pro7-Sendung für die Corona-Impfung stark gemacht hat. Künftig will er auch bei Social Media präsenter sein. Sind solche Schritte – ein Ausbau der Medienpräsenz jenseits von Tagesschau und des heute journal – richtige Schritte, um Menschen verschiedener Milieus zu erreichen?

Prof. Dr. Armin Schäfer

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Ich denke schon, dass Anstrengungen in diese Richtung notwendig und auch begrüßenswert sind. Denn wir wissen, dass bestimmte Formate und Informationsangebote nur von einigen Gruppen stark genutzt werden, von anderen aber weniger. Insofern ist es gut, zu versuchen, politische Themen auf unterschiedliche Art und Weise zu vermitteln. Menschen zu erreichen, die vielleicht nicht von sich aus immer schon sagen würden, sie interessieren sich stark für Politik, erscheint mir sinnvoll. Was die richtigen Kanäle sind, ist aber gar nicht einfach zu sagen.

Die Bundesregierung ist erstmals paritätisch mit Männern und Frauen besetzt, auch auf Ost-Biografie und Migrationshintergrund wurde geachtet. Bringt das etwas, insofern, dass sich die Menschen besser vertreten fühlen?

Prof. Dr. Armin Schäfer

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Die Zusammensetzung des Kabinetts verändert nicht unbedingt die politischen Entscheidungen. Es ist dennoch ein wichtiges Symbol, dass sich die Vielfalt der Gesellschaft auch im Kabinett in Ansätzen widerspiegelt. Und damit meine ich nicht abwertend, dass es sich um Symbolpolitik handele. Die Aussage lautet: Menschen, die einem selbst ähnlich sind, können es auch in hohe Führungspositionen schaffen. Und das ist ein wichtiges Signal, das andere vielleicht auch ermuntert, sich politisch zu engagieren. Interessant ist auch, dass zum ersten Mal die Verteilung auf Bundesländer keine Rolle gespielt hat. Und ausgerechnet die CSU, die Quoten immer ablehnt, hat sich nun beschwert, dass niemand aus Bayern vertreten ist.

In der Corona-Pandemie ist nochmal besonders augenfällig geworden, dass die Bedürfnisse einiger gesellschaftlicher Gruppen, etwa von Kindern und Jugendlichen, aber auch von Pflegepersonal, nicht ausreichend von der Politik berücksichtig werden. Was kann die neue Regierung jetzt tun, um das zu ändern?

Prof. Dr. Armin Schäfer

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Auch hier geht es wieder um Repräsentation und die Gefahr, dass bestimmte Perspektiven leichter übersehen werden können. Und das betrifft nicht nur den Bundestag oder das Kabinett, sondern auch Expertengremien. Bei der bisherigen Bundesregierung waren nicht unbedingt Psychologinnen, Erzieherinnen, Soziologen darin vertreten, sondern vielleicht eine etwas engere Gruppe, die eher medizinisch ausgebildet ist. Und deswegen ist es wichtig, wer in solchen Gremien beteiligt ist, um eine Vielfalt an Perspektiven einzubringen. Jetzt gibt es den Versuch mit einem neuen Beratergremium, das etwas breiter aufgestellt wurde, aber meiner Ansicht nach noch nicht breit genug.

Sie meinen den Corona-Expertenrat der Bundesregierung. Erziehende und Pflegekräfte sind dort wieder nicht vertreten.

Prof. Dr. Armin Schäfer

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Genau. Das wäre aber absolut wünschenswert. Denn die Pflegekräfte haben jeden Tag mit den Auswirkungen der Pandemie beruflich zu tun und kennen die Situation in den Heimen und Krankenhäusern sehr gut aus eigenem Erleben. Gut wäre nach der Faustregel zu handeln: Menschen, die in direkt betroffen sind und das täglich erleben, die sollten auch gehört werden.

Die Bundesregierung möchte das Wahlalter auf 16 Jahre absenken. Auch wenn dazu eine Grundgesetzänderung nötig ist: Ist dieser Schritt hilfreich, damit junge Menschen besser repräsentiert werden?

Prof. Dr. Armin Schäfer

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Es kann sinnvoll sein, weil man 16-Jährige beispielsweise über die Schule leichter erreicht und mit Politik konfrontieren kann als vielleicht 18-Jährige, die schon nicht mehr in der Schule sind.

Welche Rolle spielt die Schule beim Wählen?

Prof. Dr. Armin Schäfer

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Wir wissen, dass die Wahlbeteiligung unter den Jüngeren besonders ungleich ist, viel ungleicher als unter den heute Älteren. Junge Menschen, die Abitur machen, wählen zwar etwas seltener als über 60-Jährige mit entsprechender Ausbildung, aber sie wählen immer noch in relativ hohem Umfang. Wer einen mittleren Abschluss hat, geht schon seltener wählen, und bei jungen Menschen mit Hauptschul- oder ohne Schulabschluss ist die Wahlbeteiligung besonders niedrig. Für mich bedeutet das, dass die Absenkung des Wahlalters ohne Begleitmaßnahmen die Ungleichheit sogar verschärften könnte. Um diesen Effekt zu vermeiden, wäre es deswegen wichtig, in der Schule begleitende Angebote zu machen, um das Interesse in allen Bildungsgruppen zu fördern.
Unserer Politik würde es guttun, wenn mehr unterschiedliche Laufbahnen und Lebenswege vertreten wären, sagt der Politikwissenschaftler Prof. Dr. Armin Schäfer von der Uni Münster. | © WWU - SP

Über Prof. Dr. Armin Schäfer

Pfeil

Prof. Dr. Armin Schäfer lehrt vergleichende Politikwissenschaft an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster. Seine Forschungsschwerpunkte liegen an der Schnittstelle von vergleichender Politischer Ökonomie und empirischer Demokratieforschung. Schäfer hat sich insbesondere mit den Ursachen von Nichtwahl und dem Zusammenhang von sozialer und politischer Ungleichheit beschäftigt.