Bei Ankunft der Teilnehmer*innen der partizipativen Tagung „Wer, wenn nicht wir – Werkraum Demokratie 2023“ in der Akademie für Politische Bildung in Tutzing ist die Stimmung zunächst freundlich, aber noch verhalten. So wie es eben ist, wenn viele Menschen zusammenkommen, die sich noch nicht kennen. Man kommt vorsichtig ins Gespräch, tastet sich heran. Es liegt ein wenig Nervosität in der Luft, weil niemand so richtig weiß, was genau die 40 Teilnehmer*innen aus ganz Bayern in den folgenden zweieinhalb Tagen erwartet.
Ganz anders dann am Sonntag. Nach dem Mittagessen steht die Abreise an. Überall umarmen sich Menschen, spontan gefundene Fahrgemeinschaften laden Gepäck in die Fahrzeuge und das Stimmengewirr verrät: Es wird noch immer diskutiert und sich ausgetauscht. Die üppige Redezeit war scheinbar doch nicht ausreichend, um am Ende alles gesagt zu wissen. Was also geschah in der Zwischenzeit?
40 aus mehr als 300
40 Menschen im Alter von 15 bis 82 Jahren aus allen fünf Regierungsbezirken Bayerns wurden vom Organisationsteam der drei Veranstalter aus über 300 Bewerbungen ausgewählt, nach Tutzing zu kommen. In sechs Gruppen wurde zu drei Herausforderungen in Politik und Gesellschaft diskutiert und Lösungsideen ausgearbeitet, um diese im Anschluss der Politik vorzuschlagen. Die Aufgabenstellung an die Teilnehmenden lautete: Formulieren Sie einen Offenen Brief oder eine Handlungsempfehlung.
Nach einer Kennenlernrunde am Freitagabend ist in allen Gruppen bereits das Eis gebrochen und muntere Gespräche sind entstanden. Während der Tag noch im „Seestüberl“ der Akademie ihren Ausklang fand, stand der Samstag ganz im Zeichen der Arbeit an den Ideen. Den Vormittag widmeten die Gruppen überwiegend der Problemanalyse. Es wurde zusammengetragen, welche konkreten Herausforderungen das jeweilige Thema birgt, welche Missstände und Versäumnisse beklagt werden und welche gesellschaftlichen Gruppen Berücksichtigung finden müssen. Nach dem Mittagessen ging es bereits in die heiße Phase – erste konkrete Ideen wurden skizziert und formuliert. Ein World Café am späten Nachmittag bot einerseits Gelegenheit, etwas über die Arbeit der anderen Gruppen zu erfahren, aber auch Anregungen für die eigene Arbeit einzuholen. Am Sonntagmorgen wurde letzte Hand an die Ideenpapiere angelegt, bevor dann in einer einstündigen Präsentation die Ergebnisse aller Gruppen vorgestellt wurden.
Darüber hinaus befragte Bayern 2-Moderatorin Christine Bergmann im Rahmen der Präsentation die Vertreter*innen der Gruppen zu ihren Erfahrungen, die sie an den beiden Tagen zuvor sammeln konnten. Mehrfach wurde berichtet, wie interessant, aber auch intensiv und durchaus fordernd es gewesen sei, sich mit fünf oder sechs anderen Mitdiskutant*innen auf Ziele und gemeinsame Forderungen zu einigen. Neben der vertieften thematischen Auseinandersetzung erlebten die Teilnehmenden also auch demokratische Aushandlungsprozesse und deren Schwierigkeiten. Dass am Ende alle Gruppen veritable Ergebnisse erzielen und diese strukturiert dem Plenum vorstellen konnten, spricht für die Qualität der Diskussions- und Demokratiekultur der anwesenden Personen.
Zu den Ideen, die für besonders viel Raunen und Staunen im Publikum sorgten, zählten unter anderem:
- eine Bürger-App, die wie ein „digitales Dorf“ funktionieren soll,
- das „Rasen für die Bildung“-Konzept, also Zweckbindung von Geldbußen wegen Geschwindigkeitsüberschreitung,
- die Stärkung des Handwerks als Generationenprojekt, der Kostex, ein System, das die sozio-ökonomischen und ökologischen Kosten im Warenpreis berücksichtigen soll,
- das Projekt „Kochen mit Oma und Opa“, das digitale Soziale Jahr für alle, um mehr Solidarität zwischen den verschiedenen Altersgruppen zu erzeugen
- und das eigenständige „Bundesministerium für Digitales“.
Was sonst noch geschah
Das viele Denken und Arbeiten wurde von einem kleinen Rahmenprogramm aufgelockert. Am Freitag diskutierten zum Auftakt und als Impuls die Direktorin der Akademie für Politische Bildung Tutzing Professor Ursula Münch, der Philosoph Professor Andreas Sommer und der Social Entrepreneur von „Join Politics“ Philipp Husemann darüber, wie der Unmut auf Politik und Staat reduziert werden kann. Am Samstagabend konnten die Teilnehmenden beim Kabarett-Abend mit Holger Paetz entspannt seinem Jahresrückblick lauschen, bei dem er politische und brisante Themen räsonierte.
Was bleibt
Es war also ein Wochenende mit einem dichten Programm und viel Raum für Diskussion und Austausch, der von den Teilnehmer*innen so intensiv und zielführend genutzt wurde, wie es sich das Team der Veranstalter gewünscht hatte. Am Ende dieser Tagung stehen nicht nur die Ergebnisse der Gruppenarbeit in Form von Handlungsempfehlungen und Offenen Briefen. Auch die Erfahrung, wie wichtig und bereichernd es ist, mit Mitmenschen aus allen Altersgruppen und mit den unterschiedlichsten Biografien und Lebenserfahrungen in Kontakt zu treten und sich auszutauschen bleibt – und wird noch lange über das Wochenende hinaus nachwirken.
Und damit die Ergebnisse der intensiven Arbeit nicht im leeren Raum verhallen, findet am 06.02.23 im GESELLSCHAFTSRAUM eine Diskussionsveranstaltung statt, bei der die formulierten Handlungsempfehlungen und Forderungen mit Vertreter*innen aus der Kommunal- und Landespolitik erörtert werden.
Wer, wenn nicht wir?! Lösungsansätze für gesellschaftliche Herausforderungen im Realitäts-Check
06.02.23 | 18.30 bis 19.45 Uhr
GESELLSCHAFTSRAUM, Buttermelcherstr. 15, 80469 München
Mit:
Ursula Münch (Direktorin der Akademie für Politische Bildung Tutzing)
Doris Rauscher (Mitglied des Bayerischen Landtags, SPD)
Martin Heilig (2. hauptamtlicher Bürgermeister und Klimabürgermeister von Würzburg, DIE GRÜNEN)
Tanja Schweiger (Landrätin im Lkr. Regensburg, FREIE WÄHLER)
Moderation: Christine Bergmann (Bayern 2)
Anmeldung unter https://t.rausgegangen.de/tickets/wer-wenn-nicht-wir