8. Juni 2021

Für Ärzte ohne Grenzen im Corona-Einsatz

Plus Icon Corona-Pandemie//International//

Die Corona-Pandemie hält die Welt weiter in Atem. Gerade ärmere Länder oder Kriegsgebiete sind besonders betroffen. Wie die Lage im Jemen und in Malawi ist, darüber berichtet Dr. Tankred Stöbe, Notarzt und Mitarbeiter der Hilfsorganisation Ärzte ohne Grenzen.

Ärzte ohne Grenzen im Corona-Einsatz
Eine Mitarbeiterin erläutert das Corona-Sicherheitsprotokoll. | © Garvit Nangia/MSF

Herr Dr. Stöbe, Ärzte ohne Grenzen sind auf der ganzen Welt unterwegs. Wie hat sich durch die Corona-Pandemie Ihre Arbeit verändert?

Dr. Tankred Stöbe

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Die Corona-Pandemie hat uns mit neuen, bisher unbekannten Herausforderungen konfrontiert. Das vergangene Jahr zählt zu den schwierigsten in unserer 50-jährigen Geschichte: Kein Land, dass nicht von dem tödlichen Virus betroffen war und ist, während die Menschen ja weiterhin auch an Malaria, HIV und Tuberkulose erkranken. Zudem brach die Logistik zusammen, 90 Prozent der Flugverbindungen wurden gestrichen, sodass wir kaum noch humanitäre Spezialist*innen, Hilfsmittel und Medikamente in die Krisenländer schicken konnten.
Ärzte ohne Grenzen in Malawi
Dr. Tankred Stöbe unterstützte verschiedene Notfallteams. | © MSF

In Indien wurde im Mai 2021 der größte Anstieg von Corona-Infektionen seit Beginn der Pandemie gezählt. Welche Länder sind außerdem besonders betroffen?

Dr. Tankred Stöbe

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Auch wenn weltweit die Zahlen aktuell etwas zurückgehen, dürfen wir nicht vergessen, dass sich jede Woche immer noch offiziell über vier Million Menschen neu mit Sars-CoV-2 infizieren und mehr als 84.000 an Covid versterben, bei einer hohen Dunkelziffer. Neben Indien besorgt mich die Situation in Nepal, Brasilien und Südafrika sowie in einigen Ländern in Südostasien, die bisher die Pandemie kontrollieren konnten.

Der Impfnationalismus der reichen Länder muss aufhören!Bild eines Anführungszeichens

Dr. Tankred Stöbe

Notarzt und Vorstandsmitglied von Ärzte ohne Grenzen

Sie selbst waren mit Ihren Teams in Asien, dem Jemen und in Malawi im Einsatz. Wie läuft die medizinische Versorgung von Covid-19-Patient*innen ab? Wie arbeiten Sie mit den Gesundheitseinrichtungen vor Ort zusammen?

Dr. Tankred Stöbe

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Tatsächlich muss jedes Land individuell betrachtet werden. Wie gut oder schlecht es durch die Pandemie kommt, hängt offensichtlich weniger davon ab, wie modern ausgestattet die jeweiligen Gesundheitssysteme sind, da zeigt Europa ein hilfloses Versagen. Wichtiger sind Erfahrungen mit vorherigen Epidemien. Beeindruckt hat mich, wie gut das arme Land Laos mit direkter Landesgrenze zu China bisher mit dem Virus umgegangen ist – sie haben von Sars-1 gelernt. Malawi hingegen erlebte in diesem Januar eine tödliche zweite Corona-Welle mit der südafrikanischen Mutante. Und im Jemen, wo ein grausamer Krieg die Hälfte der medizinischen Infrastruktur zerstörte, sind die meisten Covid-Patient*innen zuhause erstickt, ohne je getestet oder behandelt worden zu sein. Das Gesundheitssystem konnte dem nichts entgegensetzen, in weiten Teilen wird die Existenz der Pandemie geleugnet.
Libanon - COVID-19-Impfung
In einigen Ländern wurden Covid-19-Impfszentren eingerichtet. | © Tariq Keblaoui

Über Ärzte ohne Grenzen

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Die unabhängige Hilfsorganisation leistet neben medizinischer Nothilfe Aufklärungsarbeit und ist in 250 Projekten und 63 Ländern gegen die Pandemie im Einsatz. Sie unterstützt Gesundheitseinrichtungen und Krankenhäuser bei der Versorgung von Covid-19-Patient*innen und setzt sich für einen gerechten Zugang zu Impfstoffen ein. Einblicke in aktuelle Aktivitäten zur weltweiten Corona-Hilfe von Ärzte ohne Grenzen finden Sie auf der Webseite der Organisation. 

Wie gehen die Menschen mit der Krise um? Wie sind Ihre Erfahrungen?

Dr. Tankred Stöbe

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Bei den meisten Menschen erlebte ich eine Mischung aus Angst, Ohnmacht und Wut. Denn sie kämpfen ohnehin täglich ums Überleben und auch die Informationen zu dieser neuen Viruserkrankung sind meist unzureichend. In der Demokratischen Republik Kongo wüteten im letzten Jahr vier Epidemien gleichzeitig, aber Cholera, Ebola und Masern waren noch tödlicher als Corona. Und im Nordosten des Landes waren die Kongolesen wütend, weil sich die internationale Hilfe auf die Pandemie fokussierte, während für die Menschen der anhaltende Bürgerkrieg schlimmer war als alle Krankheitsausbrüche.

In welchen Bereichen mangelt es besonders und mit welchen Problemen haben Sie tagtäglich zu kämpfen?

Dr. Tankred Stöbe

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Im Jemen und in Malawi fehlte es an allem: Schutzausrüstung, Krankenhausbetten, Beatmungsgeräte, aber auch an geschulten Pflegenden und Ärzt*innen. Selbst die Sauerstoffversorgung, die in jeder deutschen Klinik praktisch unerschöpflich verfügbar ist, ist dort ein Problem. Sauerstoff muss in beiden Ländern in 50 Liter-Flaschen herbeigeschafft und mühsam befüllt werden und reicht nicht aus: Die meisten Patienten sind auch in den Krankenhäusern erstickt.

2020 zählt zu den schwierigsten in der 50-jährigen Geschichte von
Ärzte ohne Grenzen.
Bild eines Anführungszeichens

Dr. Tankred Stöbe

Notarzt und Vorstandsmitglied von Ärzte ohne Grenzen

Welche Bedeutung misst die Regierung von Malawi der Pandemie bei und welche Gegenmaßnahmen wurden ergriffen?

Dr. Tankred Stöbe

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Der Präsident hat Mitte Januar öffentlich verkündet, dass im Land nicht ausreichende Test- und Behandlungsmöglichkeiten verfügbar seien und Malawier*innen deshalb sterben werden. Das war zwar ehrlich, schadete aber dem Vertrauen in die existierende medizinische Versorgung. Wir haben auf dem Gelände des größten Krankenhauses in der Stadt Blantyre zehn Zelte errichtet, um alle Menschen zu testen und zu triagieren und somit das Virus von der Klinik fernzuhalten. Zudem konnten wir 100 Helfer*innen einstellen und Sauerstoff-Flaschen bereitstellen.

Was ist das größte Problem bei der Bekämpfung der Pandemie und was kann Ihrer Ansicht nach helfen?

Dr. Tankred Stöbe

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Gegenwärtig ist eine meiner Hauptsorgen die ungleiche Verteilung von Impfstoffen. Während wir in Deutschland diskutieren, auch alle Jugendlichen zu impfen und wohl bald eine Herdenimmunität erreichen, sind in den meisten Ländern Afrikas weniger als zwei Prozent der Menschen geimpft, also nicht einmal die Gesundheitsmitarbeitenden. Der Impfnationalismus der reichen Länder muss aufhören! Wenn wir die Pandemie nicht gleichmäßig weltweit in den Griff bekommen, drohen weitere Virus-Mutationen – wie derzeit aus Indien – die bisherigen Erfolge zunichtezumachen. Vergessen wir nicht, dass dies nicht nur ein Gebot der humanitären Solidarität ist, die auch wichtig wäre, sondern ein rationaler Imperativ.
Portrait Dr. Tankred Stöbe
Dr. Tankred Stöbe ist Notarzt und seit 2002 für Ärzte ohne Grenzen im Einsatz. | © Oliver Barth/Ärzte ohne Grenzen

Über Dr. Tankred Stöbe

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Der Berliner Notarzt Dr. Tankred Stöbe ist seit 2002 für die Hilfsorganisation Ärzte ohne Grenzen im Einsatz. Er war in 18 verschiedenen Ländern an Hilfsaktionen beteiligt, im Januar 2020 übernahm Dr. Stöbe die Koordination der Corona-Hilfe in Asien. Die Entwicklung der Pandemie und deren Auswirkungen verfolgte er unter anderem im Jemen und in Malawi. Dr. Tankred Stöbe ist Mitglied des internationalen Vorstands der Organisation und arbeitet abseits seiner ehrenamtlichen Tätigkeit in Berlin als Notarzt und Intensivmediziner, unter anderem im Gemeinschaftskrankenhaus Havelhöhe.