16. Februar 2021

Wie Corona unser Miteinander verändert – Interview mit Philipp Hübl

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Alle ächzen unter den Pandemie-Bedingungen, unser Umgang miteinander ist – auch oder gerade mit Abstand – eher schwieriger geworden. Ein Gespräch mit dem Philosophen Philipp Hübl über Angst, Moral und Zukunftsaussichten.

Corona verändert das Miteinander
Kontakt in Zeiten von Corona. | © shutterstock/Miriam Doerr Martin Frommherz

Herr Hübl, Differenzen gehören zum menschlichen Miteinander. Doch Corona hat neues Konfliktpotenzial geschaffen. Haben Sie schonmal öffentlich geschimpft, weil jemand die Maske nicht richtig getragen oder eine andere Corona-Regel missachtet hat?

Philipp Hübl

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Ich neige überhaupt nicht dazu, Leute zu beschimpfen, wenn sie etwas falsch machen. Schimpfen führt meist zu Trotz und bringt deshalb ohnehin nichts. Allerdings: Ich habe einmal einen Gast im Zug, der keine Maske aufhatte, freundlich gebeten, sie aufzusetzen. Das hat auch funktioniert: Er hatte es einfach nicht bemerkt. Ich glaube, wenn Menschen sich nicht an die Corona-Regeln halten, geschieht das oft aus Unachtsamkeit oder, weil sie die Gefahr falsch einschätzen.

Wie kommt das?

Philipp Hübl

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Einige kennen sich einfach nicht gut aus, etwa mit Aerosolen in geschlossenen Räumen. Ein Rolle spielt aber bestimmt auch das unterschiedliche Sicherheitsbedürfnis von Menschen.  Das ist ein bisschen wie beim Fahrradfahren. Selbst wenn zwei Menschen denselben Wissensstand über die Gefahren im Straßenverkehr haben, entscheidet sich eine Person dazu, mit Helm zu fahren, die andere fährt munter ohne.

In der Pandemie wird Alltägliches zu einer Frage der Moral. Ein Beispiel: Die Tochter wird im Lockdown zu einer Geburtstagsfeier eingeladen. Ihre Eltern erlauben es nicht. Aber sind sie verpflichtet, darüber hinaus aktiv zu werden, die Gastgeber anzusprechen oder sogar anzuzeigen?

Philipp Hübl

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Ich glaube, man ist nicht verpflichtet, in diesem Fall einzugreifen, aber es ist auch nicht schlecht, wenn man es macht. Philosophen nennen das eine supererogatorische Handlung. Klingt kompliziert, meint aber nur Handlungen, die gut sind, aber über die grundlegende Pflicht hinausgehen. Im Fall der Feier die Eltern anzusprechen, fände ich am besten. Moralisch verpflichtet wäre man nur, wenn die Wahrscheinlichkeit einer Ansteckung sehr hoch ist. Anzeige zu erstatten hingegen ist völlig absurd. Das ist so, also würde man sofort die Polizei rufen, wenn der Nachbar die Musik zu laut aufdreht, anstatt zu klingeln und freundlich um Ruhe zu bitten.

Im Moment ist es nützlich, etwas wachsamer zu sein, was Gefahren angeht. Stammesgeschichtlich ist das ein ganz alter Mechanismus, nämlich Angst.Bild eines Anführungszeichens

Philipp Hübl

Philosoph und Autor

Werden wir umgekehrt zu einer verunsicherten Gesellschaft, weil wir ständig Angst haben müssen, etwas falsch zu machen und dafür kritisiert zu werden?

Philipp Hübl

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Das ist eine sehr spannende Frage, weil wir Kritik, Empörung, also moralische Wut, als Mittel der Sozialkontrolle verwenden. Das ist auch in vielen Fällen gut: Wenn jemand beispielsweise mit 60 Stundenkilometern durch eine Tempo-30-Zone fährt, stellen wir ihn zur Rede. Das löst in der Regel Scham oder Schuldgefühle aus. Im besten Fall führt es dazu, dass sich das Fehlverhalten nicht wiederholt und der Straßenverkehr sicherer wird.

Es ist also gesellschaftlich sinnvoll, Fehlverhalten anzusprechen und zu tadeln?

Philipp Hübl

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Im Prinzip ja. Es gibt aber auch immer den Fall, dass man mit der Kritik über das Ziel hinausschießt. Dann ist der Effekt eben nicht, dass echtes Fehlverhalten korrigiert wird, sondern dass Leute unsicher werden und denken, sie könnten gar nichts mehr richtig machen.

Sehen Sie dafür im Moment eine besondere Gefahr? Immerhin gibt es eine Fülle neuer Regeln, die wir in unseren Alltag integrieren müssen.

Philipp Hübl

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Klar, dass wir alle verunsichert sind. Schon darüber, wie es mit unserem Leben und der Gesellschaft weitergeht. Und im Corona-Alltag verunsichert uns die ständige Frage, ob wir mit dem was wir tun, uns selbst und andere wirklich schützen können. Das alles führt natürlich insgesamt zu einer verunsicherten Stimmung. Das ist aber nicht nur schlecht.

Inwiefern?

Philipp Hübl

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Im Moment ist es von Vorteil, etwas wachsamer zu sein, was Gefahren angeht. Stammesgeschichtlich ist das ein ganz alter Mechanismus, nämlich Angst. Die Angst warnt uns vor Gefahren. Insofern ist es ganz in Ordnung, wenn unsere Angstsensoren zurzeit etwas feiner eingestellt sind, denn dann sind wir wahrscheinlich auch vorsichtiger, waschen uns häufiger die Hände, tragen die Maske und senken so hoffentlich die Gefahr uns anzustecken. Die Angst und die Unsicherheit werden natürlich auch wieder verschwinden, wenn die Gefahr gebannt ist, zum Beispiel weil die Mehrheit geimpft ist.

Es ist ein altes Phänomen, dass wir über andere urteilen und sie moralisch beurteilen. Das machen wir ständig.Bild eines Anführungszeichens

Philipp Hübl

Philosoph und Autor

Dinge, die vorher rein privat waren, sind nun eine Frage des Infektionsschutzes und damit gesellschaftlich relevant. Eigentlich möchte man doch nicht darüber urteilen, wohin ein Freund verreist oder wen eine Kollegin besucht. Jetzt geschieht es reflexartig eben doch. Wie verändert das unseren Umgang miteinander?

Philipp Hübl

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Es ist ein altes Phänomen, dass wir über andere urteilen und sie moralisch beurteilen. Das machen wir ständig. Früher hat man vielleicht die Nachbarn dafür kritisiert, dass sie am Sonntag den Rasen mähen. Oder umgekehrt, dass sie ihren Vorgarten zu wenig pflegen. Diese moralischen Vorwürfe am Lebenswandel der anderen gingen immer schon bis ins Privatleben hinein. Das können wir wahrscheinlich gar nicht abstellen. Allerdings hat sich in den letzten Jahrzehnten unser Verhalten noch verschärft, weil wir eine progressive Wende erlebt haben: Wir sind jetzt auch sensibilisiert für die unbeabsichtigten, langfristigen Folgen unseres Handelns. Die Menschen vor Hunderten von Jahren haben sich darüber nicht so viele Gedanken gemacht. Jetzt denken wir darüber nach, dass es zur Erderwärmung beiträgt, wenn jemand viel fliegt. Das ist eine begrüßenswerte Sensibilisierung, die aber manchmal ausartet, etwa wenn die SUV-Fahrerin beschimpft wird: Denn ihr Anteil an der Erderwärmung ist zu klein, um messbar zu sein.  Aber wir bestrafen jetzt plötzlich einzelne Handlungen (Autofahren) stellvertretend für ein großes Problem (Klimawandel) und arbeiten uns so bloß an Kleinigkeiten ab. Oft geht es dabei dann eher um die moralische Selbstdarstellung der Kritiker innerhalb ihrer Gruppe. Und das lässt sich eben auch in der Pandemie beobachten.

Immer wieder gab es auch öffentliche Schuldzuweisungen: junge Menschen, die angeblich rücksichtslos feiern, ausländische Arbeitende, die das Virus eingeschleppt haben sollen und viele andere Gruppen. Liegt es in der menschlichen Natur, nach Schuldigen zu suchen?

Philipp Hübl

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Kurze Antwort: Ja. Und die lange Antwort lautet: Da kommen mehrere Faktoren zusammen. Zum einen gibt es einen sogenannten autoritären Reflex in Krisenzeiten. Den Wunsch nach einem starken, vielleicht sogar autoritären Anführer, der alles wieder in Ordnung bringt, wenn die Lage bedrohlich ist. In solchen Situationen sind Menschen eher als sonst bereit, sich unterzuordnen. Sie tendieren außerdem dazu, andere Gruppen abzuwerten. Da wählt dann jeder die Gruppe, die ihm vorher ohnehin schon auf die Nerven ging. Hinzu kommt dann noch die Verallgemeinerung von Einzelverhalten. Und so kommt es, dass junge hedonistische Leute, die insgesamt vielleicht eher etwas mehr feiern und insgesamt sorgloser sind als andere Altersgruppen, zum Sündenbock werden.

Was glauben Sie – finden wir nach der Pandemie wieder in einen unbeschwerten Umgang miteinander zurück?

Philipp Hübl

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Ich bin mir ganz sicher, dass es so sein wird. Schon im Sommer 2020, als die erste Welle vorüber war, wurde der Umgang wieder lockerer und unbeschwerter. Und so wird es auch wieder sein: Wenn die Ansteckungsgefahr minimiert ist, werden die Leute alles nachholen, was sie verpasst haben: Shoppen, Feiern und Reisen.

Das klingt recht optimistisch.

Philipp Hübl

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Ich würde es anders formulieren: Wir haben Glück im Unglück. Noch niemals in der Menschheitsgeschichte waren wir so gut auf eine Pandemie vorbereitet wie jetzt. Natürlich ist die Pandemie selbst furchtbar. Weltweit sind schon mehr als zwei Millionen Menschen gestorben. Das kann man gar nicht in Worte fassen. Gleichzeitig ist auch klar: Wäre das vor 50 Jahren passiert, wäre das Ausmaß der Katastrophe weitaus größer gewesen.

Warum?

Philipp Hübl

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Wir hatten damals weder das Wissen noch die Mittel, auf die Pandemie zu reagieren. Die Tests und die Impfstoffe hätten nicht entwickelt werden können, Gentechnik und digitale Datenverarbeitung gab es noch gar nicht. Die Ausbreitung der Pandemie hätte man nicht in Echtzeit verfolgen und untersuchen können. Jetzt befindet sich auch die Bevölkerung zum ersten Mal auf einem wissenschaftlichen Informationsstand, den wir so noch nie zuvor erreicht hatten. Übrigens nicht nur in medizinischer Hinsicht: Bildung ist auch das beste Mittel gegen Extremismus und Populismus, die ebenfalls aus Angst und anderen archaischen Instinkten entspringen. Wir sind aus „krummem Holz“ gemacht, wie Kant sagen würde. Bildung hilft uns, etwas mehr klare Linie in unser Denken zu bringen.
Portrait Philipp Hübl
Die allgemeine Verunsicherung ist nur vorübergehend und wird nach Abebben der Pandemie verschwinden, glaubt Philosoph Philipp Hübl. | © Juliane Marie Schreiber

Über Philipp Hübl

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Philipp Hübl ist Philosoph, Gastprofessor für Kulturwissenschaften an der Universität der Künste Berlin und Autor. In seinem Buch „Die aufgeregte Gesellschaft“ hat er analysiert, wie Emotionen unsere Moral prägen und die Polarisierung verstärken. In „Bullshit-Resistenz“ setzte er sich mit Lügen, Fake-News und Verschwörungstheorien auseinander. Philipp Hübl schreibt außerdem regelmäßig zu gesellschaftlichen und politischen Themen in europäischen Medien.