16. Juli 2021

Von Briefwahl bis Abstand an der Wahlurne

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Bundeswahlleiter Dr. Georg Thiel spricht im Interview über Auswirkungen der Corona-Pandemie auf die Organisation der Bundestagswahl und erklärt, warum die Stimmzettel wohl auch in Zukunft von Hand ausgezählt werden.

Von Briefwahl bis Abstand an der Wahlurne
Wenn der Postkasten zur Wahlurne wird. | © Adobe Stock/VRD

Dr. Thiel, 2021 gilt als Superwahljahr wegen gleich fünf Landtagswahlen, der Bundestagswahl und mehreren kommunalen Abstimmungen. Hinzu kommen strikte Hygienevorschriften wegen der Corona-Pandemie. Ist es für Sie und Ihre Behörde auch ein besonderes Wahljahr?

Dr. Georg Thiel

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Die Bundestags- und die Europawahlen sind für uns eigentlich immer etwas Besonderes. In den Intervallen dazwischen konzentrieren wir uns auf die Fragen: „Was können wir verbessern? Wo können wir Vorkehrungen treffen, die notwendig sind?“ Die Corona-Pandemie kommt in diesem Jahr natürlich noch hinzu. Wir beobachten die Lage jetzt seit fast 15 Monaten, immer unter dem Gesichtspunkt, wie man Wahlen unter den Pandemiebedingungen optimal gestalten kann.

Welche Faktoren sind in dieser Hinsicht besonders relevant?

Dr. Georg Thiel

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Zum einen natürlich die Hygiene: Wir wollen nicht, dass sich am Wahltag vor den Wahllokalen sehr lange Schlangen bilden, und wir wollen, dass die Menschen in den Wahllokalen Abstand halten können. Das betrifft diejenigen, die zur Wahl kommen, ebenso wie die Wahlhelferinnen und Wahlhelfer. Deshalb brauchen wir in diesem Jahr mehr Wahllokale als sonst und die Räumlichkeiten müssen eine bestimmte Größe haben, damit das mit dem Abstandhalten überhaupt funktioniert. Da die Auszählung öffentlich stattfindet, muss auch dafür genügend Platz gewährleistet sein.

Ein anderer Punkt ist die Briefwahl. Wir gehen davon aus, dass deutlich mehr Menschen als sonst diese Möglichkeit zur Abstimmung nutzen, und wollen natürlich, dass die Briefwahl auch in diesem Jahr reibungslos funktioniert. Das ist den Kolleginnen und Kollegen bei den bisherigen Landtagswahlen in diesem Jahr übrigens sehr gut gelungen. Deshalb bin ich optimistisch, dass uns das bei der Bundestagswahl auch gelingen wird.

Ich denke, dass die Akzeptanz der Wahl in Deutschland so hoch ist, hat sehr viel mit unserem transparenten Wahlsystem zu tun.Bild eines Anführungszeichens

Dr. Georg Thiel

Bundeswahlleiter

Welche Erfahrungen haben Sie in den Ländern gemacht, in denen 2021 gewählt wurde?

Dr. Georg Thiel

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In allen Ländern hat sich der Anteil der Briefwählerinnen und Briefwähler gegenüber den letzten Landtagswahlen deutlich erhöht. Aufgrund dieser Erfahrung rechnen wir bei der Bundestagswahl mit einer deutlichen Steigerung der Briefwahlquote. Und wir berücksichtigen das natürlich bei unseren Vorbereitungen. Das fängt bei der Bereitstellung von genügend Briefwahlunterlagen durch die Gemeinden an und geht bis zur Vorbereitung der Auszählung der Briefwahlstimmen.

Welches sind die größten Herausforderungen vor dem Wahltag?

Dr. Georg Thiel

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Wir gehen davon aus, dass wir 650.000 Wahlhelferinnen und Wahlhelfer brauchen. Das ist eine große Zahl und eine echte Herausforderung für die Gemeinden diese zu mobilisieren.

Nachdem bekannt wurde, dass Wahlhelfende bei den Coronaimpfungen priorisiert werden, gab es viel mehr Bewerbungen als sonst, zuletzt sind aber wieder Menschen abgesprungen. Wird es genügend helfende Hände geben?

Dr. Georg Thiel

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Wir kennen das eigentlich schon von früheren Wahlen, dass es immer nicht so leicht ist, genügend Menschen zu gewinnen. Wir brauchen zum einen sehr erfahrene Helferinnen und Helfer, die das schon häufiger gemacht haben, wir brauchen aber auch immer neue Leute als Verstärkung. Die kommunalen Stellen bemühen sich immer sehr, die Leute zusammenzubekommen. Aber im Prinzip können es nie zu viele sein, denn es ist ein langer Wahltag ab 8 Uhr morgens. Oft fallen mehrere Wahlvorgänge zusammen, Landtags- oder Kommunalwahlen oder Volksentscheide. Das Auszählen dauert dann entsprechend länger, nicht selten bis in die frühen Morgenstunden. Aus all diesen Gründen ist jede helfende Hand willkommen.

Das Impfangebot für Wahlhelferinnen und Wahlhelfer gab vielleicht teils den Ausschlag, sich freiwillig zu melden, aber womöglich haben einige nicht bedacht, dass es sich um ein Ehrenamt handelt, das man nicht einfach so wieder niederlegen kann. Man muss dann schon triftige Gründe angeben. Ich denke, dass wir insgesamt die nötige Zahl erreichen werden.

Über den Bundeswahlleiter

Pfeil

Dr. Georg Thiel ist seit November 2017 Bundeswahlleiter und damit für die Vorbereitung und Organisation der Bundestags- und Europawahlen zuständig. Thiel ist auch Präsident des Statistischen Bundesamtes, die Dopplung hat Tradition. Der Bundeswahlleiter ist als Wahlorgan nur an gesetzliche Vorschriften, nicht an politische Weisungen gebunden. Zu seinen Aufgaben gehören u.a. die Bildung des Bundeswahlausschusses, die Ermittlung und Bekanntgabe des vorläufigen und endgültigen amtlichen Wahlergebnisses sowie die Überprüfung der Wahl auf ihre Ordnungsmäßigkeit.

Sie sind also nicht besorgt?

Dr. Georg Thiel

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Keineswegs.

Nochmal zum Thema Briefwahl: In der Vergangenheit haben Sie sich schon kritisch zum Anstieg des Briefwähleranteils geäußert. Wo liegen Ihre Bedenken?

Dr. Georg Thiel

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Für uns gilt der Satz des Bundesverfassungsgerichtes, dass der Leitgedanke der Wahl die Urnenwahl ist. Aber die Briefwahl gibt es seit 1957 und das Bundesverfassungsgericht hat sich mehrfach dazu Gedanken gemacht und die Briefwahl immer als konform mit dem Grundgesetz betrachtet.

Bei der Briefwahl müssen aus meiner Sicht zwei Komplexe berücksichtigt werden, zum einen das Organisatorische: Die Kommunen müssen die Anträge auf Erhalt eines Wahlscheins bearbeiten und die Briefwahlunterlagen rechtzeitig versenden. Insgesamt ist es ein größerer Aufwand als bei Wählerinnen und Wählern, die mit Wahlbenachrichtigung und Personalausweis ins Wahllokal gehen. Wobei ich ergänzen muss, dass die Digitalisierung hier Erleichterung gebracht hat, auf der Wahlbenachrichtigung befindet sich zum Teil ein QR-Code mit dem leicht ein Wahlschein für die Briefwahl beantragt werden kann.

Der zweite Komplex ist: Briefwählende versichern an Eides statt, dass sie alles persönlich ausfüllen, aber natürlich sitzen wir nicht mit am Küchentisch. Hier ist der Wähler in der Verantwortung – die Abgabe einer falschen Versicherung an Eides statt ist strafbar.

Gibt es denn Hinweise auf Unregelmäßigkeiten?

Dr. Georg Thiel

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Ich kann klar sagen, dass es seit Einführung der Briefwahl keinerlei Anhaltspunkte gibt für Unregelmäßigkeiten in einem Ausmaß, dass sie das Wahlergebnis beeinflussen könnten.

Ein wesentlicher Unterschied bei der Briefwahl ist, dass man nicht am Wahltag selbst wählt, sondern seine Stimme vorher abgibt. Ereignisse, die bis dahin noch passieren, können nicht berücksichtigt werden. Ist das ein Problem?

Dr. Georg Thiel

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Es ist ein Faktor, den Wählende berücksichtigen sollten, wenn sie sich zwischen Urnen- und Briefwahl entscheiden. Es gab in der Geschichte schon einige brisante Ereignisse in den letzten zwei Wochen vor einer Wahl. Wer sich dann gerne noch einmal umentscheiden würde, aber die Briefwahlunterlagen bereits abgeschickt hat, hat dazu keine Möglichkeit mehr.

Superwahljahr 2021

Pfeil

Bei einer demokratischen Wahl können Bürgerinnen und Bürger Einfluss auf die Geschicke ihres Landes nehmen. 2021 gibt es dazu reichlich Gelegenheit: Am 14. März waren in Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz Landtagswahlen, in Hessen Kommunalwahlen. Am 6. Juni wurde in Sachsen-Anhalt ein neuer Landtag gewählt. Am 12. September stehen Kommunalwahlen in Niedersachsen an. Der 26. September ist der Tag der Bundestagswahl, Berliner*innen wählen außerdem ihr Abgeordnetenhaus und die Bezirksverordnetenversammlung. In Mecklenburg-Vorpommern und Thüringen sind am gleichen Tag Landtagswahlen.

Es gibt also viele Anlässe für Politikerinnen und Politiker, um die Gunst der Wählerschaft zu werben. Obwohl der Wahlkampf in diesem Jahr pandemiebedingt tüchtig auf den Kopf gestellt werden dürfte. Kontaktverbote und Abstandsregeln haben eine Verlagerung ins Digitale bewirkt. Aktive Politikerinnen und Politiker sind als Krisenmanager*innen einem dauernden Stresstest ausgesetzt – und das im Rampenlicht. Währenddessen buhlen rechte Agitator*innen um Menschen, die mit den Anti-Corona-Maßnahmen der Politik unzufrieden sind. Außerdem wird es nach vier Legislaturperioden erstmals einen neuen Bundeskanzler oder eine neue Bundeskanzlerin geben. Das heißt also: Das Wahljahr 2021 birgt eine Reihe von Besonderheiten und Herausforderungen, die es in der Geschichte unserer Demokratie zu einem Wegweisenden machen. Uns ist das eine eigene Wahl-Serie im Blog der Nemetschek Stiftung wert – mit Interviews und Berichten zu vielen Facetten im Superwahljahr 2021.

Gibt es eine Art kritischer Marke, bei der Sie sagen würden: Höher darf der Briefwahlanteil nicht werden?

Dr. Georg Thiel

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Nein, es gibt keine rechtliche Grenze und auch das Bundesverfassungsgericht hat uns in dieser Hinsicht keinen Hinweis gegeben. Ich finde immer eine hohe Wahlbeteiligung sehr wichtig. Und um die zu erreichen, ist insbesondere in Pandemiezeiten, die Briefwahl ein wichtiges Instrument.

Meine Botschaft ist: Es ist wichtig, dass man überhaupt wählen geht, egal ob per Brief- oder Urnenwahl.

Bis 2008 mussten Wählerinnen und Wähler noch begründen, warum sie per Post abstimmen und nicht vor Ort. Sollte so eine Hürde wieder installiert werden?

Dr. Georg Thiel

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Diese Hürde wurde ja abgeschafft, weil das System eigentlich nicht praktikabel war. Die Leute gaben bestimmte Gründe an und wir konnten es nicht überprüfen. Jetzt haben wir das System, dass jeder selbst entscheiden kann, und das ist aus meiner Sicht eine gute Sache. So sollte es bleiben.

Die Corona-Pandemie hat der Digitalisierung einen mächtigen Schub verliehen, siehe Homeoffice oder Homeschooling. Wie sieht es beim Wählen aus? Ist die digitale Stimmabgabe in naher Zukunft vorstellbar?

Dr. Georg Thiel

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Wir hatten mal Wahlcomputer im Einsatz, das wurde vom Bundesverfassungsgericht gekippt. Das Gericht hat deutlich gemacht, dass die Wahl in all ihren Schritten für die Bürgerinnen und Bürger transparent und nachvollziehbar sein muss. Daran ist bisher die Verwendung jeder Software gescheitert. Und ich kann mir nicht vorstellen, dass wir diese Hürde in naher Zukunft nehmen. Unser System hat sich seit vielen Jahren gut bewährt. Jeder kann sehen, wie die Stimmen abgegeben und wie sie ausgezählt werden. Und ich denke, dass die Akzeptanz der Wahl in Deutschland so hoch ist, hat sehr viel mit unserem transparenten Wahlsystem zu tun.