24. Juni 2021

Warum der Wohnort über Wählen oder Nichtwählen entscheiden kann

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Die einen holen extra den Sonntagsanzug aus dem Schrank, die anderen ignorieren den Wahltag. Was bringt Menschen dazu, wählen zu gehen und was hält sie davon ab? Interview mit Prof. Dr. Armin Schäfer von der Uni Münster.

Wahlbeteiligung und Wohnort
Wählen gehen ist nicht für alle selbstverständlich. Warum eigentlich nicht? | © Adobe Stock/Christian Schwier

Prof. Schäfer, rechnen Sie mit einer hohen Wahlbeteiligung bei der Bundestagswahl?

Prof. Dr. Armin Schäfer

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Ich denke, es wird keine dramatische Veränderung zu 2017 geben. Damals lag die Wahlbeteiligung bei 76 Prozent, das war deutlich höher als in den Vorjahren. Es kann natürlich auch noch einiges passieren bis zur Wahl.

Welche Faktoren beeinflussen die Wahlbeteiligung?

Prof. Dr. Armin Schäfer

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Es gibt strukturelle Faktoren wie etwa soziale Ungleichheit. Die sind dafür verantwortlich, dass seit den 80er Jahren die Wahlbeteiligung tendenziell zurückgeht. Dann gibt es sogenannte situative Faktoren, zum Beispiel, wie stark wird im Wahlkampf polarisiert, wie offen ist der Wahlausgang?

Man könnte schon sagen, dass die Corona-Pandemie die Bevölkerung polarisiert hat, oder?

Prof. Dr. Armin Schäfer

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Ja, und wäre die Wahl im März mitten im Lockdown gewesen, wäre das sicherlich ein starker Mobilisierungsfaktor gewesen. Das kann natürlich auch noch passieren, je nachdem, wie sich die Pandemie entwickelt. Aber wenn die Inzidenzen weiter sinken, die Menschen in Urlaub fahren und in den Biergarten gehen können, denke ich, dass der Einfluss auf die Wahlbeteiligung überschaubar bleibt.

Unser Wahlsystem mit Erststimme und Zweitstimme kann schon abschreckend wirken.Bild eines Anführungszeichens

Prof. Dr. Armin Schäfer

Politikwissenschaftler

Sie haben zu den Ursachen von Nichtwahl geforscht, können Sie die wichtigsten aufzählen?

Prof. Dr. Armin Schäfer

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Es gibt einen Dreiklang: Menschen beteiligen sich nicht an Wahlen, weil sie nicht wollen, nicht können oder nicht dazu aufgefordert werden. Diejenigen, die nicht wollen, interessieren sich meist ganz allgemein nicht für Politik und vertreten oft die Meinung: „Ich kann ja sowieso nichts ändern, egal, ob ich wählen gehe oder nicht.“ Nicht wählen können bezieht sich auf die Ressourcen, die zum Wählen nötig sind.

Aber da sind wir doch in Deutschland gut aufgestellt, oder? Berechtigte erhalten automatisch eine Wahleinladung und müssen sie nicht erst beantragen. Es gibt viele Wahllokale, so dass keine weiten Wege nötig sind und wer eingeschränkt mobil ist, wird sogar hingefahren oder kann per Brief wählen. Im Vergleich etwa zu den USA scheint es wenig Hinderungsgründe zu geben.

Prof. Dr. Armin Schäfer

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Alle diese Punkte sind zutreffend und das ist auch der Grund, warum Deutschland global gesehen eine recht hohe Wahlbeteiligung hat, die im oberen Mittelfeld liegt. Aber zu Ressourcen zählen wir auch beispielsweise die Frage, ob jemand das Wahlsystem versteht. Und da muss man sagen, dass unser Wahlsystem mit Erststimme und Zweitstimme schon abschreckend wirken kann. Auch der Fakt, dass in der Regel mehr als 40 Parteien antreten, die zum Teil sehr unterschiedliche Wahlprogramme haben, macht es sehr aufwendig, sich gründlich zu informieren. In den vergangenen Jahren ist zudem die Wahrscheinlichkeit von Mehrparteienkoalitionen gestiegen, die vor der Wahl so noch nicht absehbar sind. Es wird also immer wahrscheinlicher, dass, wenn ich wähle und meine Wunschpartei gut abschneidet, trotzdem nicht die Regierung gebildet wird, auf die ich gehofft habe. Insgesamt ist es kompliziert, wählen zu gehen – und das ist für einige Menschen ein Grund, dann lieber gar nicht zur Wahl zu gehen.

Und der dritte Punkt, dass Menschen nicht aufgefordert werden, wählen zu gehen?

Prof. Dr. Armin Schäfer

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Da geht es um Mobilisierung und das ist auch ein sehr wichtiger Faktor. Studien belegen, dass es große Unterschiede gibt, welche gesellschaftlichen Gruppen mittelbar angesprochen und in den Wahlkampf einbezogen werden. Zum Beispiel haben die Soziologin und Politikwissenschaftlerin Sigrid Roßteutscher von der Goethe-Universität und ich in Frankfurt am Main untersucht, wo der Wahlkampf stattfindet. Wir haben festgestellt, dass Parteien vor allem dorthin gehen, wo die Wahlbeteiligung höher als im Durchschnitt ist und wo sie selbst in der Vergangenheit gut abgeschnitten haben. Das ist durchaus verständlich, weil die Parteien es sich meist personell und finanziell nicht leisten können, in allen Stadtteilen gleichstark präsent zu sein. Dennoch bedeutet es im Umkehrschluss, dass in gewissen Stadtteilen – und das sind immer die ärmeren – weniger stark mobilisiert wird.

Superwahljahr 2021

Pfeil

Bei einer demokratischen Wahl können Bürgerinnen und Bürger Einfluss auf die Geschicke ihres Landes nehmen. 2021 gibt es dazu reichlich Gelegenheit: Am 14. März waren in Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz Landtagswahlen, in Hessen Kommunalwahlen. Am 6. Juni wurde in Sachsen-Anhalt ein neuer Landtag gewählt. Am 12. September stehen Kommunalwahlen in Niedersachsen an. Der 26. September ist der Tag der Bundestagswahl, Berliner*innen wählen außerdem ihr Abgeordnetenhaus und die Bezirksverordnetenversammlung. In Mecklenburg-Vorpommern und Thüringen sind am gleichen Tag Landtagswahlen.

Es gibt also viele Anlässe für Politikerinnen und Politiker, um die Gunst der Wählerschaft zu werben. Obwohl der Wahlkampf in diesem Jahr pandemiebedingt tüchtig auf den Kopf gestellt werden dürfte. Kontaktverbote und Abstandsregeln haben eine Verlagerung ins Digitale bewirkt. Aktive Politikerinnen und Politiker sind als Krisenmanager*innen einem dauernden Stresstest ausgesetzt – und das im Rampenlicht. Währenddessen buhlen rechte Agitator*innen um Menschen, die mit den Anti-Corona-Maßnahmen der Politik unzufrieden sind. Außerdem wird es nach vier Legislaturperioden erstmals einen neuen Bundeskanzler oder eine neue Bundeskanzlerin geben. Das heißt also: Das Wahljahr 2021 birgt eine Reihe von Besonderheiten und Herausforderungen, die es in der Geschichte unserer Demokratie zu einem Wegweisenden machen. Uns ist das eine eigene Wahl-Serie im Blog der Nemetschek Stiftung wert – mit Interviews und Berichten zu vielen Facetten im Superwahljahr 2021.

Und das wirkt sich direkt auf die Wahlbeteiligung aus?

Prof. Dr. Armin Schäfer

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Die Zahlen legen das nahe. Bei der Bundestagswahl 2017 gab es – zumindest in den Städten – Stadtteile, in denen knapp 90 Prozent der Wahlberechtigen gewählt haben und andere Bezirke der gleichen Stadt, wo es unter 50 Prozent waren. Das sind keine Marginalien, die Unterschiede sind riesig.

Was könnte man dagegen tun?

Prof. Dr. Armin Schäfer

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Direkt vor der Wahl wäre das die direkte Ansprache im Stadtteil. Es gab dazu einen Versuch in Köln, dort haben sich mehrere Organisationen, Vereine und Verbände zusammengetan, und in einem Bezirk mit bislang unterdurchschnittlicher Wahlbeteiligung zum Wählen aufgerufen. Und es gab tatsächlich einen signifikanten Anstieg.

Das wäre also ein nachahmenswertes Modell?

Prof. Dr. Armin Schäfer

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Ja. Wichtig ist aber, dass die Menschen nicht ausschließlich von Parteienvertreterinnen und -vertretern angesprochen werden.

Warum nicht?

Prof. Dr. Armin Schäfer

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Parteien haben in Gegenden mit niedriger Wahlbeteiligung oft ein eher schlechtes Ansehen. Damit Mobilisierung dort gelingt, müssen zusätzlich Menschen oder Gruppen aktiv werden, die vor Ort bereits stark verankert und vernetzt sind. Das kann die Vorsteherin der Kirchengemeinde, ein Würdenträger aus der Moschee oder der Sozialarbeiter im Familienzentrum sein. Glaubwürdigkeit ist hier das Zauberwort. Wenn ich von außen komme und sinngemäß sage, „Hallo, ich bin der Prof. Schäfer und Wählen ist wirklich eine wichtige Bürgerpflicht“, dann erreiche ich wahrscheinlich niemanden. Sagt aber eine Person, die sich im Viertel bereits Respekt erworben hat: „Ich gehe immer wählen, ich denke, das bringt was“, dann hat das eine Chance, bei einigen Menschen Vorbildfunktion zu erfüllen und sie zu mobilisieren.

Denn wir wissen, dass Wählen stark vom sozialen Umfeld beeinflusst wird. Gehen alle meine Bekannten zur Wahl, bewege ich mich in Netzwerken, in denen Menschen über den Wahlausgang sprechen, dann werde ich sehr wahrscheinlich auch wählen, es ist ganz normal für mich. Bewege ich mich aber in Gruppen, wo am Wahlsonntag keiner darüber spricht, wo es die Regel ist, nicht wählen zu gehen, dann steigt die Chance, dass auch ich es nicht tue.

Wir haben Akademikerparlamente, die nicht den Querschnitt der Bevölkerung abbilden.Bild eines Anführungszeichens

Prof. Dr. Armin Schäfer

Politikwissenschaftler

Gibt es auch Langfristiges, was zum Beispiel die Politik tun kann, damit mehr Menschen zur Wahl gehen?

Prof. Dr. Armin Schäfer

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Wir haben Akademikerparlamente, die nicht den Querschnitt der Bevölkerung abbilden. 85 Prozent der Bundestagsabgeordneten sind Akademikerinnen und Akademiker. Und 20 Prozent der Bevölkerung. Handwerksmeisterinnen und -meister, Pflegekräfte, jemand, der im Logistikzentrum arbeitet – Menschen aus vielen Berufsgruppen fehlen in den Parlamentsdebatten. Dabei macht es einen großen Unterschied, ob ich ein Problem aus eigener Anschauung kenne oder nur durch Befragung von anderen. Und so läuft es im Moment in unseren Parlamenten. Das haben wir auch gerade in der Corona-Pandemie gemerkt, wo die direkten Erfahrungen einer Pflegerin oder eines Erziehers sicher sehr hilfreich für die Entscheidungsfindung gewesen wären.

War es nicht schon immer so, dass bestimmte Bevölkerungsgruppen, insbesondere mit höheren Bildungsabschlüssen, stärker in Parlamenten vertreten waren?

Prof. Dr. Armin Schäfer

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Ja, aber die Homogenität hat in den vergangenen 30 Jahren noch stark zugenommen. Es gibt jetzt zum Beispiel vermehrt diese rein politischen Lebensläufe: von der Jugendorganisation einer Partei, über die Arbeit im Abgeordnetenbüro oder einer parteinahen Stiftung zum Mandat. Das ist inzwischen der klassische Weg. Und so sitzen immer mehr Menschen in den Parlamenten, die noch nie in anderen Zusammenhängen gearbeitet haben.

Inwiefern ist das ein Problem?

Prof. Dr. Armin Schäfer

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Zum einen eben wegen der fehlenden Anschauung, das erschwert das Erkennen und Lösen von gesellschaftlichen Problemen. Und wegen der Glaubwürdigkeit bei potenziellen Wählerinnen und Wählern. Es befeuert dieses Gefühl, das „die da oben“ sich mit meinen Belangen eigentlich nicht auskennen und nicht für mich sprechen. Und das wiederum kann zu einer Resignation und zum Nichtwählen führen.
Portrait Prof. Dr. Armin Schäfer
Wünscht sich mehr berufliche Vielfalt in den Parlamenten: Politikwissenschaftler Prof. Dr. Armin Schäfer. | © WWU - SP

Über Prof. Dr. Armin Schäfer

Pfeil

Prof. Dr. Armin Schäfer lehrt vergleichende Politikwissenschaft an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster. Seine Forschungsschwerpunkt liegen an der Schnittstelle von vergleichender Politischer Ökonomie und empirischer Demokratieforschung. Schäfer hat sich insbesondere mit den Ursachen von Nichtwahl und dem Zusammenhang von sozialer und politischer Ungleichheit beschäftigt.